Ludwig Pfau
Claude Tillier
(1865)
I.
Zu Anfang der fünfziger Jahre, als ich eines Tags durch Paris schlenderte und vor einer jener fliegenden Buchhandlungen stehen blieb, welche auf den Brüstungen der Quais und unter den Schwibbögen der Häuser ihren Kram ausbreiten, fielen meine Blicke auf ein geheftetes Bändchen von schadhaftem Aussehen. Kein Umschlag, kein Titel, kein Vorwort, weder Verfasser noch Drucker – nichts als ein angeklebter Schmutztitel mit den drei Worten: Mon Oncle Benjamin. Ich weiß nicht, welche Anziehungskraft die drei Worte auf mich übten, aber sie schienen mich freundlich anzublicken, als wollten sie sagen: »Blättere nur um, es wird Dich nicht gereuen.« Ich ließ mich nicht lange bitten, und in der That, kaum hatte ich ein paar Seiten überflogen, als mich Stil und Inhalt so fesselten, daß ich das Buch um einige Sous erwarb und einsteckte. Ich ging in den Luxembourggarten, setzte mich unter einen Kastanienbaum und stand nicht wieder auf, bis es zu Ende gelesen war.
Lange Zeit hatte mir kein Buch eine so herzliche Befriedigung gewährt; aber von wem war es? Der einfache, knappe und bestimmte Stil schien der des achtzehnten Jahrhunderts; die natürliche Erzählung ohne Rückhalt und Umschweif erinnerte an Voltaire, Diderot und Lesage; das innige Gefühl für Natur und Menschheit streifte wohl auch an die Empfindsamkeit Rousseaus. Aber die ganze Ausdrucksweise war naturwüchsiger, volkstümlicher, farbiger; und selbst wenn der Verfasser sich nicht als einen E n k e l jener Generation eingeführt hätte – der Geist der Freiheit und Gleichheit, der sein Buch durchdringt, zeigt zuviel modernes Bewußtsein, um nicht an den Mutterbrüsten der Revolution getrunken zu haben. Ueberdies war, trotz all jener Familienähnlichkeit, der Charakter des Schriftstellers ein so selbständiger, sein Humor ein so besonderer, daß diese sich nur aus der Eigentümlichkeit des Menschen erklären ließen.
Wie groß daher meine Freude über die Schönheit des Buches war, fast größer noch war mein Erstaunen über die Verschollenheit des Verfassers. Wie kam es, daß ein Mann von solchem Talent nicht in aller Mund war? Wie konnte ein Schriftsteller, dem die Teilnahme des Lesers so lebhaft entgegenkommt, ganz im Verborgenen bleiben? Längere Zeit hielt ich bei Literatur und Buchhandel vergebliche Umfrage, bis es mir gelang, die Spuren meines großen Unbekannten, der allerdings inzwischen etwas bekannter geworden ist, aufzufinden. Ich bekam die vier Bände seiner Schriften, die im Jahr 1846 in Nevers erschienen sind, und erfuhr nun, daß er C l a u d e T i l l i e r heiße, in der Provinz gelebt habe, in der Provinz gestorben sei, und deshalb von Paris ignorirt werde. Wen aber Paris nicht kennt, den kennt Frankreich nicht.
Claude Tillier ist wohl in diesem Jahrhundert der einzige französische Schriftsteller von höherer Begabung, der sich entschließen konnte, im Dunkel einer kleinen Stadt seine bescheidene Rolle zu spielen. Er ist ein Kind der Revolution und wurde am 21. Germinal des Jahres IX der Republik, oder den 10. April 1801 in Clamecy, einer kleinen Stadt im Departement der Nièvre, geboren. Sein Vater war Schlosser. Schon als Knabe, bei den Raufereien der Schuljugend, stand er stets auf seite der Schwächeren und bekämpfte die Stärkeren. In Folge dieser verderblichen Neigung kam er eines Tags mit einem gebrochenen Arme nach Hause. Uebrigens hielt seine Fähigkeit gleichen Schritt mit seinem Mut und er zeichnete sich in der Schule dergestalt aus, daß ihm, 1813, das städtische Stipendium von Clamecy unter zahlreichen Mitbewerbern zu teil wurde. Mit Hilfe desselben vollendete er seine Studien im Lyceum von Bourges.
Bei der ersten Restauration empörte sich Claude, das Kind der Revolution, das, wie er selbst sagt, aus den Feldflaschen der Marketenderinnen seine Muttermilch getrunken hatte, gegen die neue Ordnung der Dinge. Er stellte sich an die Spitze eines Schulaufruhrs und antwortete auf den Ruf: vive le roi! mit dem Schrei: vive l'empereur! Er zerriß die weiße Kokarde und schrieb an seine Mutter einen begeisterten Brief, der später in feindliche Hände fiel und ihm, während der zweiten Restauration, den Weg zum öffentlichen Unterricht verschloß.
Nach Beendigung seiner Studien verließ Tillier im Jahr 1819 das Collége von Bourges. Er wurde nun Repetent (maître d'études), zuerst im Collége von Soissons und dann bei einem Pensionsvorsteher in Paris. Im Jahre 1821 militärpflichtig, wurde er ausgehoben und mußte den Feldzug von 1823 als Unteroffizier bei der Artillerie mitmachen. Er, der Sohn der Freiheit, muß zu Gunsten der Heiligen Allianz gegen die Spanier marschiren! Nachdem er sechs Jahre voll Ekel und Ueberdruß im Militärdienst verbracht, und dort den Grund zu der Brustkrankheit gelegt hatte, die ihm das Leben nahm, kehrte er im November 1828 in seine Heimat zurück. Er wurde Lehrer der Kommunalschule und heiratete.
Jetzt beginnt Tillier sich als Schriftsteller bemerklich zu machen; er wird der eifrige Mitarbeiter eines kleinen Oppositionsblattes, das im Jahre 1831 unter dem Titel »L'Independant« in Clamecy ans Licht trat. Nicht zufrieden, die Jungen zu belehren, will er auch die Alten unterrichten. Aber die Leute, die nicht lernen wollen, sind denjenigen abhold, welche ihnen Lektionen geben, und sie rächten sich am Schriftsteller auf Kosten des Schulmeisters. Seine Gegner schlugen der Gemeinde vor, einen zweiten Hauptlehrer zu ernennen und den Gehalt unter beide zu teilen. Tillier verteidigte sich mit seinen »harten und spitzen Waffen«, wie er sie selber nennt. Er überreichte dem Gemeinderat eine Gegenvorstellung, worin er die Ungereimtheit des Vorschlags in launiger Weise hervorhob, indem er die Vereinigung zweier Lehrer einem Doppelgespann, bestehend aus einem Pferd und einem Esel, verglich. Doch des Haders müde, gab er schließlich die Entlassung des Pferds und überließ das Fuhrwerk dem andern Zuggenossen. Das Polizeigericht jedoch nahm die Partei des Esels und der ausgeschirrte Schulmeister mußte die Unverblümtheit seiner Sprache mit achttägiger Haft büßen.
Tillier gründete nun eine Privatschule, die anfänglich sehr besucht war. Aber jener Gegensatz, der zur Katastrophe von 1848 führte, jener Zwiespalt zwischen einer verdorbenen Bourgeoisie, die sich mit dem Königtum in die Beute von 1830 geteilt hatte, und dem betrogenen Volke, das leer ausgegangen war, stand damals in voller Entwicklung. Tillier nahm, wie immer, die Partei der Unterdrückten, und bald hatte sich das ganze Heerlager der Korruption — Amtsfrack, Kutte und Geldsack — gegen ihn verschworen. Diese natürlichen Widersacher jedes freien und edlen Charakters suchten dem armen Schulmeister die ökonomische Lebensader zu unterbinden. Der politische Haß und die religiöse Verfolgungswut legten sich in Hinterhalt, um ihm seine Schüler abzufangen. Gemästete Pfahlbürger und fanatische Beichtiger bearbeiteten die Väter und ängstigten die Mütter, bis die Privatschule mehr und mehr zusammenschmolz.
Aber wie es immer geschieht, daß das böse Prinzip durch seinen Sieg sich selber die Niederlage bereitet, so wurde auch Tillier durch diese Verfolgungen nur seinem schriftstellerischen Beruf entgegengetrieben, und seine gewaltige Feder versetzte den Dunkelmännern weit empfindlichere und nachhaltigere Schläge als sein Schulstecken dies je vermocht hätte. Im Jahr 1840 veröffentlichte er sein erstes Pamphlet unter dem Titel: »Ein Flößer, an den Gemeinderat von Clamecy«. Hierauf kamen die »Briefe über die Wahlreform«, welche der »National« abdruckte. Im Jahre 1841 hatte sein Name schon einen so guten Klang, daß er nach Nevers berufen wurde, um die Redaktion des Journals »L'Association« zu übernehmen. Hier schrieb er fürs Feuilleton zwei Erzählungen: seinen »Onkel Benjamin« und »Belleplante und Cornelius«. Die erste, eine reizende Skizze der nivernesischen Sitten des achtzehnten Jahrhunderts, verbindet mit der Geistesfrische gallischer Darstellung jenen germanischen Humor, der durch Thränen lacht, und steht in dieser Beziehung einzig in der französischen Literatur da. Die meisterhafte Schilderung weiß spielend, mit wenigen Strichen, einem Charakter Fleisch und Blut zu geben und ihn in voller Lebendigkeit vor die Augen des Lesers zu zaubern. Mehr erlebt als erfunden, der Fülle gestaltender Anschauung entsprungen, gehört der Onkel Benjamin zu jenen bevorzugten Geisteskindern, wie auch der glücklichste Vater nur eines zeugt; zu jenen seltenen Büchern, welche durch die innige – weil unbewußte – Verschmelzung von Ideal und Wirklichkeit, zum Gemeingut aller Zeiten und aller Orte werden und in ewiger Jugend von Geschlecht zu Geschlecht gehen. Die andere Erzählung behandelt die Leiden und Freuden des Erfinders im Kampfe mit dem Gemeinen; sie ist mehr phantastischer Natur, aber reich an Schönheiten.
Die »Association« erlag endlich einer systematischen Verfolgung; aber Tillier, obwohl bereits krank, legte seine Feder nicht nieder. Er schrieb nun eine erste Reihenfolge von vierundzwanzig Pamphleten, sodann eine zweite von zwölfen. Die Fülle satirischen Feuers, philosophischer Laune und poetischer Kraft, die er in diesen Pamphleten versprüht hat, ist erstaunlich. Der Wähler, der Einnehmer, der Präfekt, der Bischof, der Herr Pfarrer, der Herr Professor, der Herr Maire, die wunderthätige Heilige und der gestrenge Stadt- und Feldbüttel, alle die Halbgötter des Bezirks, die Riesen des Landstädtchens, müssen antreten und aufspielen. Aber sein bevorzugter Gegner, sein natürlicher Erbfeind ist Herr Dupin, der als Generalstaatsprokurator und Senator des zweiten Kaiserreichs verstorbene Kammerpräsident der Republik und Abgeordnete der Juliregierung. Man kann sich auch keine vollständigeren Gegenfüßler denken als diese zwei Menschen: den bescheidenen, uneigennützigen Pamphletisten voll Zartgefühl und Gesinnungstreue, und den gierigen, feilen Hof- und Staatsschmarotzer ohne Scham und Grundsatz. Wenn dieser Typus der Korruption in seinen großen Galoschen auf die Szene tritt, dann zieht der Stil Tilliers gleichfalls nägelbeschlagene Schuhe an, um seinem Gegner besser auf die Füße treten zu können. Die »Pamphlete« bilden eine Geschichte des liberalen Geistes der Provinz unter Louis Philipp; sie geben ein Gesamtbild der Kämpfe und Schlachten, wie sie die demokratische Opposition in allen Departements der Juliregierung lieferte. Das Erscheinen der letzten Reihenfolge erlebte Tillier nicht mehr. Sein Brustleiden endigte mit Zehrung, und so löschte er aus, die Feder in der Hand, wie eine Schildwache, die im Fallen noch schreit: »Kameraden, hier ist der Feind!« Er starb in Nevers am 12. Oktober 1844, dreiundvierzig Jahre alt.
Das ist in wenig Worten das Leben – so kurz und so voll, so bescheiden und so verdienstlich – eines Mannes von Genie. Als Kind: ein Armbruch; als Knabe: eine Auflehnung; als Jüngling: ein Soldatenlos; als Mann: eine Schulstube, dann Gefängnis, Verfolgung, Kampf, Elend und endlich der Tod! Er starb arm, wie er gelebt hatte, aber trotz dieser Armut pflegte er für seine Freunde gut zu sprechen und fand Mittel, im Notfall für sie zu zahlen. Die Enthaltsamkeit des Philosophen und die Sorglosigkeit des Künstlers bildeten die Grundzüge seines Charakters. In allen Fragen finden wir ihn auf seiten der Wahrheit, der Freiheit, der Gerechtigkeit. Mag er nun den Aberglauben und die Unduldsamkeit eines herrschsüchtigen Klerus angreifen, oder die Selbstsucht und Verdorbenheit einer bereicherten Bourgeoisie geißeln; mag er für das Wahlrecht und die Preßfreiheit, oder gegen die Dotation des Herzogs von Nemours und den Schenkelknochen der heiligen Flavia schreiben, all diese kleinen Meisterstücke der Polemik zeigen dasselbe warme Rechtsgefühl, denselben gesunden Menschenverstand, dieselbe unerbittliche Logik des Schraubstocks, welche das, was sie hält, nimmer losläßt, und welcher eine wunderthätige Heilige so wenig entrinnt wie ein königlicher Prinz.
Der Form mächtig und reich an Inhalt, Denker und Künstler, Politiker und Poet, leicht und klar, anmutig und scharfkantig, ist Claude Tillier der echte Ausdruck französischen Schrifttums. Mitten im alten Gallien, in der Nähe der Loire, in der eigentlichen Heimat des gallischen Geistes, auf der Grenzscheide von Troubadour und Trouvère geboren, hat er, wie der Wein sein Bouquet, den eigentümlichen Geschmack des Grund und Bodens, dessen Gewächs er ist. Gar manchen Schriftsteller von köstlichem Humor, scharfem Verstand und beißendem Spott hat dieser fröhliche Erdstrich hervorgebracht, namentlich aber den Geistesverwandten Tilliers: P a u l L o u i s C o u r i e r , und den Altvater des Pamphlets und der Satire, den Meister Montaignes, Molières und Voltaires: den lustigen R a b e l a i s . Tillier ist der rechtmäßige Sohn dieser Familie und seine Streitschriften, die man noch heute mit ungeschwächtem Genusse liest, nehmen ihren Platz neben den Pamphleten Paul Louis Couriers. Die beiden Landsleute stehen sich gleich an Feuer und Schwung, an reizender Natur und künstlerischer Fertigkeit, an Fülle der Empfindung und Kraft der Ironie; und wenn Tillier in Beziehung auf Zierlichkeit der Sprache und Feinheit der Darstellung zuweilen hinter seinem Vorgänger zurückbleibt, so übertrifft er diesen an Neuheit und Ursprünglichkeit, er besitzt die unerwartete Wendung und das überraschende Bild. Tillier hat den franken Ausdruck, den ländlichen Beigeschmack, die würzige Herbigkeit des Volks, aus dem er hervorging; sein Stil strotzt von Saft und Triebkraft, wie der Wildling im freien Land. »Was liegt mir daran« – sagt er irgendwo – »wenn ihr eine Vergleichung trivial heißt, wenn sie nur richtig und malerisch ist, wenn sie nur die Idee verkörpert und greifbar macht für Aug und Ohr. Ein sauberer Grund das, eines Worts sich zu enthalten, weil dreißig Millionen andere es gebrauchen«.
II.
Besser überhaupt als aus jeder Biographie lernt man Tillier aus seinen eigenen Darstellungen kennen. Denn als Poet von lyrischem Gefühl und plastischer Gestaltungskraft verwebt er sein Leben in seine Schriften und gibt, wie keiner, sich selber in jeder Zeile. Nichts kann zum Beispiel ein anschaulicheres Bild von den Leiden und Kämpfen seiner Jugend gewähren als folgende Schilderung, die er von seinem Repetentenleben entwirft:
»Ich, der mit euch scherzt und lacht, bin durch des Lebens schwerste Prüfungen gegangen. Ich war Schüler, Lehrgehilfe, Soldat und Schulmeister. Mit diesen Hantirungen verband ich immer die des Poeten. Der Korporal, der Schuldirektor, die verzogenen Kinder, die zärtlichen Mütter und der Reim waren meine fünf unerbittlichen Feinde, die mich unablässig verfolgten … Jetzt bin ich Pamphletist, Pamphletist mit etwas spitzem Zahn, von dem verschiedene Leute Narben tragen, aber niemals werde ich so viel Schlimmes von der Gesellschaft sagen, als sie mir zugefügt hat.
»Eh ich Soldat wurde, war ich Lehrgehilfe. Von allen Knechten der unglücklichste aber ist ohne Zweifel der Repetent in einer Pension. Mit Entsetzen erinnere ich mich des kläglichen Bewußtseins, das ich mit mir schleppte, als ich, mein Zeugnis in der Tasche, wie ein Domestik an Lichtmeß, jenen lateinischen Trödelkrämern der Hauptstadt, welche die Sprachen Homers und Virgils im Fürkauf verschachern, meine Dienste anbot … Ich war neunzehn Jahre alt; das Leiden suchte mich bei Zeiten heim, und nicht ohne Mühe konnte ich mir das Stück Brot erwerben, das jeder Bettler zu finden weiß. Vier Wochen lang durchwanderte ich die Straßen von Paris mit meiner Großmutter, die entferntesten Vorstädte hatten wir durchspäht, an die Thüren aller Anstalten, die der Wegweiser kennt, hatten wir geklopft; aber die gute Frau mochte sagen so viel sie wollte: »Claude hat alle Klassen absolvirt und sogar ein Accessit in der Philosophie davongetragen« – umsonst! Meine unglückseligen neunzehn Jahre waren schuld, daß ich meiner Großmutter überall heimgeschlagen wurde. Von Haus zu Haus wies man uns die Thüre mit dem Donnerwort: »Wir brauchen niemand.« Ein spaßhafter Pensionsvorstand stellte sich sogar, als halte er mich für einen Zögling, der ihm gebracht werde. Endlich fand meine Großmutter in einem Institut, Avenue de Lamothe-Piquet, ein Eckchen für mich. Die vortreffliche Anstalt lag zwischen dem Invalidenhaus und der Militärschule, gerade einer Pension für dressirte Hunde gegenüber, welche daselbst apportiren lernten und die Pfote geben.«
Diese Nachbarschaft gab Veranlassung zu einem Irrtum, den Claude drollig genug erzählt: Eine Dame, welche die Hundepension für ihren kleinen Vierfüßler suchte, wurde vom Institutsherrn für eine Mutter gehalten, die ihr Kind unterbringen will.
»Ich hatte in diesem Hause« – fährt Tillier fort – »die Wäsche, die Kost und ein Bett im Schlafsaal der Zöglinge; in Anbetracht meiner großen Jugend wurde mir vorerst kein Gehalt verwilligt. Ich leitete die Studien und Repetitionen, ich überwachte die Rekreationsstunden und führte die Zöglinge spazieren. Das war ein teuer bezahltes Stück Brot.
»Der Besitzer der Anstalt hatte nichts von einem Lehrer als den Namen auf seinem Schilde. Er verstand kein Latein, nicht einmal das der Küche. Um seine Unwissenheit zu verbergen, suchte er sich den Ruf eines Gelehrten zu verschaffen; er hatte zu dem Ende »Die Schönheiten der französischen Geschichte« herausgegeben und arbeitete an den historischen Schönheiten einer andern Nation. Diese Art von Büchern war zu jener Zeit sehr im Schwang; jeder Nation wurden die Schönheiten ihrer Geschichte in einem Duodezbande aufgetischt, weder ein Blatt mehr noch ein Blatt weniger.
»Es gibt Leute, welchen eine gute Seite genügt, um ein gutes Buch daraus zu machen; andere bringen mit Hilfe eines guten Buchs nicht einmal eine gute Seite zu stand. Herr R. gehörte zu den letzteren. Er war einer jener Geistverderber, die verstümmeln statt abzukürzen, die einen Folianten nehmen, ihn seziren, das Fleisch wegwerfen und die Knochen behalten; einer jener Küchenjungen der Literatur, die, wenn sie einen Apfel schälen, nichts übrig lassen als den Butzen. Seine Schönheiten der französischen Geschichte gaben ihm das Recht, sich den Titel eines Schriftstellers beizulegen, ein Titel, welcher dem andern eines Studienlehrers zu nicht geringer Zierde gereichte. Er verbrachte seine Tage in den öffentlichen Bibliotheken mit Anfertigung von Auszügen und seine Abende in den Salons des Faubourg Saint-Germain, wo er wegen der Reinheit seines Royalismus zugelassen wurde. Während seiner Abwesenheit fiel die Krone an die weibliche Linie. Diese weibliche Linie herrschte in der Person der Madame R., einer rothaarigen, bleichen Engländerin, die eine Haut hatte wie die Eierschalen eines welschen Huhns, oder wie weißer Atlas, der längere Zeit den Frechheiten der Fliegen ausgesetzt war. Die Zöglinge liebten sie sehr, weil sie ihnen immer recht gab; die Unterlehrer verabscheuten sie ebenso sehr, weil sie ihnen immer unrecht gab.
»In der Pension des Herrn R. befanden sich zwanzig bis fünfundzwanzig Engländer, welche seine Frau als Mitgift zugebracht hatte, und ungefähr ebenso viele Franzosen, die sein Beibringen vorstellten. Diese Mischung zweier Nationen bildete das Erziehungssystem. Die Engländer der Frau sollten den Franzosen des Herrn die Sprache Byrons beim Schneller- und Ballspiel beibringen; und diese sollten jenen bei derselben Gelegenheit die Sprache Racines zu Gemüt führen. Infolge dieses unglückseligen Austausches hatten die Substantiva ihre Artikel verloren, die Adjektiva ihre Geschlechter und die Verba ihre Konjugationen. Es entstand ein solcher Mischmasch beider Sprachen, ein solches Kauderwelsch, daß, wie beim Turmbau von Babel, kein Mensch den andern mehr verstand …
»Während der ersten Tage, die ich in diesem Haus zubrachte, fühlte ich mich furchtbar unglücklich. Der Verlust der Freiheit war mir eine unerträgliche Qual. Ich beneidete heimlich den Schuhputzer, der singend und pfeifend unter den Fenstern vorüberging. Wie gern hätte ich meinen ganzen Weisheitsschatz um seinen schmutzigen Schemel und seine schwarzen Hände gegeben. Manchmal erstickten mich fast die Thränen, aber ich wagte nicht zu weinen; ich mußte die Nacht abwarten, um mir diesen Genuß zu gestatten. Oft sagte ich zu mir: Warum hat mich mein Vater sein Handwerk nicht gelehrt? Da hätte ich alles, was ich brauche: Brot und Freiheit; mehr hab' ich nie verlangt, und hier hab' ich weder Brot noch Freiheit. Der gute Mann hatte geglaubt, ich müsse mit Hilfe der Ausbildung, die er mir geben ließ, meinen Weg machen wie so viele andere; aber statt der Goldstücke gab er mir Rechenpfennige in den Beutel. Ich bin zu einfältig, zu unbeholfen, zu ränkelos, um beim Unterrichtswesen Glück zu machen. Das Glück ist wie die hohen Bäume, nur das Insekt, das kriecht, oder der Vogel, der fliegt, kann sein Nest auf ihnen bauen.
»Uebrigens war ich erst am Anfang meiner Qual. Nach zwei oder drei Tagen hatten meine Untergebenen allen Respekt vor meiner Person verloren. Die zwei Nationen, die sich tagtäglich bekriegten, schlossen einen Waffenstillstand und verbündeten sich gegen mich. Mein grauer Frack – ein grauer Frack, welchen der beste Schneider meines Orts gefertigt und meine Großmutter für prachtvoll erklärt hatte – war das Ziel all ihrer Sticheleien und öfters sogar ihrer Wurfgeschosse geworden. Kein Strafen half, klein und groß lachte zu meinen Strafen; der Schularrest war ihnen so lieb wie die Erholung, denn beim Schularrest mußte ich den Vorsitz führen. Unzähligemal kam ich in Versuchung, an dieser frechen und in ihren Possen grausamen Bande eine sofortige und summarische Rache zu nehmen. Aber wenn ich fortgeschickt wurde, was sollte ich machen? Wie sollte ich meinen Eltern, die mich auf bestem Wege glaubten, unters Angesicht treten? Und selbst wenn ich diesen Entschluß hätte fassen wollen, wie sollte ich meinen Platz auf dem Postwagen bezahlen? Ich hatte wörtlich keinen Heller. Meine Familie gab mir eine Unterstützung von fünf Franken monatlich, die mir durch meine Großmutter zukamen; aber diese fünf Franken hatte ich längst in Brötchen und Brezeln vernascht, die ich unterwegs aß, wann ich ausging, denn ich hatte fortwährend Hunger.«
Endlich aber brach dem armen Tillier doch die Geduld und nachdem er eines Tags einen unverschämten jungen Engländer gebührend durchgewalkt hatte, mußte er die Pension im Spätjahr 1820 verlassen.
»Ich hatte« – erzählt er weiter – »mit Herrn R. abgerechnet. Es kamen mir noch zweiundzwanzig Franken und zehn Centimes zu gut, die er mir gab. Sie hüpften mir in die Tasche. Meine Habseligkeiten waren bald beisammen. Mein ganzer Koffer bestand aus einem alten, an den vier Zipfeln zusammengeknüpften Halstuch, das mehr bekritzeltes Papier enthielt als Wäsche. Ein alter Cigarrenstumpf, der sich in meiner Tasche vorfand, kam mir zufällig unter die Finger. Es schien mir am Platze, mit der Cigarre im Munde abzuziehen. Ich zündete sie in der Küche an und schritt stolz über den Hof, wie eine Garnison, die mit allen Kriegsehren die Festung verläßt. Am großen Thore stand ein Knabe, der auf jemand zu warten schien. Dieser junge Zögling war im Arbeitssaal mein Tischnachbar gewesen und ich hatte ihm oft bei seinen Aufgaben geholfen. Sobald er mich kommen sah, lief er auf mich zu und streckte mir etwas Viereckiges, in weißes Papier Gewickeltes entgegen.
»›Ich bitte Sie, Herr Claude, nehmen Sie das; es ist Vanilleschokolade. Ich weiß, Sie haben bei Herrn R. nicht viel verdient. Das gibt ein paar Frühstücke. Fürchten Sie nicht, mich zu berauben; der Christtag ist vor der Thür, Mama wird mir andere Schokolade geben, und Ihnen gibt vielleicht niemand was.‹
»Dieses unerwartete Zeichen herzlicher Zuneigung brachte mich in Verlegenheit. Ich bin mit einer sehr einfältigen Erregbarkeit behaftet und mein in Schwingung gesetztes Gefühl entbehrt aller Geistesgegenwart. Statt diesem liebenswürdigen Jungen zu danken, fing ich an zu weinen wie ein großer Esel. Er machte inzwischen Anstalt, sein Paket in meine Fracktasche zu schieben, und ich – von Thränen geblendet, vom Schluchzen erstickt, unfähig zu sprechen – suchte seine Hände aufzuhalten, aber vergeblich. Sobald die Schokolade in meiner Tasche war, nahm der liebe kleine Schelm seinen Flug, wie ein Vogel, den man aus einem Busch in den andern jagt. Einige Schritte von mir blieb er stehen.
»›Herr Claude‹, rief er, ›wenn Sie mir versprechen wollen, die Schokolade zu behalten, so komm' ich wieder zu Ihnen, ich hab' Ihnen noch was zu sagen.‹
»›O lieber Kleiner, ich verspreche Dir's; ich werde sie immer behalten, zum Andenken an unsere Freundschaft.‹
»Er kam zurück und nahm mir beide Hände.
»›Nun müssen Sie mir noch versprechen, daß Sie mir's zu wissen thun, in welches Institut Sie eintreten. Ich mag den Herrn R. nicht leiden, weil er ein Royalist, und die Madame R. nicht, weil sie eine Engländerin ist; aber Sie liebte ich von der ersten Stunde, ich weiß nicht warum, und ich werde Mama so lange bitten, mich zu Ihnen zu bringen, bis sie einwilligt.‹
»›Gut, mein Kind, ich verspreche Dir auch das.‹
»Und indem ich meine Hände aus den seinigen löste, floh ich auf die Straße, denn ich spürte, wie mir das Weinen wieder kam. Aus einiger Entfernung sah ich meinen Freund auf der Terrasse stehen. Er blickte mir nach mit Augen, die gewiß voller Thränen standen.
»Seitdem vergaß ich dieses Kind. Ich aß brutalerweise seine Schokolade, ohne ihm Nachricht von der Pension zu geben, in die ich getreten war. Ich habe es vergessen, wie der Wanderer den Baum vergißt, unter welchem er auf seinem Weg durch die Wüste einen Augenblick ausruhte. Diese arme, verstorbene Liebe, hier ruht sie in einem Winkel meines Herzens unter einem rosenfarbenen Flor; denn das Schicksal des Menschen ist das Vergessen. Auf dem Grunde jedes Menschenherzens liegt, ach! ein Häufchen Schlacken und Asche. Unsere Seele ist ein Friedhof voller Gräber und Grabschriften, ein Beet, wo die jungen Blüten in die toten Blumen ihre Wurzeln schlagen. Das Vergessen ist eine Wohlthat Gottes, denn wenn der Mensch, während rings um ihn alles sich wandelt und vergeht, nicht die Gabe des Vergessens hätte, so wäre er das unglücklichste aller Geschöpfe, sein Leben wäre ein unaufhörlicher Schmerz und sein Auge ein unerschöpflicher Thränenquell.«
Auf die Leiden des Lehrgehilfen folgen die Qualen des Schulmeisters. Die lebhafte Schilderung derselben gibt zugleich eine Andeutung der Kämpfe, die Tillier mit dem Klerus zu bestehen hatte. Er schreibt:
»Wer von uns beiden verdient sein Brot ehrlicher, ihr Bischöfe oder wir Schulmeister? Wir stecken vom Morgen bis zum Abend in einem Rudel Kinder, die kläffen wie eine Meute, und quälen uns, um die schwerfällige, verrostete Maschine, die man Schule nennt, in Gang zu bringen, und ermüden uns wie der Holzhacker, der seinen Keil in einen Klotz treibt, um Buchstaben und Silben in die harten Kinderköpfe zu keilen, und ruiniren uns, um langweilige Erklärungen hundertmal zu wiederholen. Der arme Wegknecht kann seine Haue einen Augenblick ruhen lassen, um einem alten Bekannten, der vorübergeht, die Hand zu drücken; der Maurer auf seinem Gerüste dreht den Kopf nach der Gasse und blickt einem Mädchen, dem er freundlich zuwinkte, lange Zeit nach. Der Schlosser, während er den Blasbalg auf und ab zieht, träumt von seiner Heimat und vom Tage des Wiedersehens; der Schneider, der seinen Rock näht, findet in einer Falte seines Tuchs ein lustiges Lied, das er wieder und wieder erklingen läßt, wie der Bauer ein Geldstück klingen läßt, das er probiren will. Aber wir, wir müssen unsern Kopf bewachen, wie eine Schildwache ihren Platz; wir müssen jeden Traum, jede Erinnerung, jeden Wunsch unerbittlich abweisen; wir müssen sehen und sprechen zugleich, diesen bändigen, jenen anspornen, hier die Ordnung wahren, dort den Fleiß erwecken; kurz, wir müssen die Arbeit thun von Dreien. Manche von uns haben glänzende Fähigkeiten, aber wenn sich ihr Geist in höhere Regionen versteigen will, müssen sie ihm die Flügel an den Katheder nageln; sie haben ein goldenes Werkzeug und müssen Steine damit klopfen. Und ihr, ihr Herren Bischöfe, was thut ihr inzwischen? Ihr predigt auf einer Kanzel, ihr spaziert als kleine Herrgötter unter einem Baldachin, ihr laßt euch von Leviten beräuchern, oder ihr verbannt gar einen alten Pfarrer aus seinem befreundeten Sprengel. Für dieses harte Stück Arbeit zahlt euch die Regierung zehntausend Franken per Jahr, aber ihr seid keine Leute, die sich mit so wenigem begnügen. Ihr macht jedes Jahr eine Reise, und wenn ihr fünfzig Stunden weit gefahren seid, kehrt ihr ermattet und erschöpft in euren Palast zurück, um auszuruhen, und für diese mühsame Wanderung verlangt ihr nicht weniger als zweitausend Frank »Reisediäten«. Ach, wie viele von uns wären überglücklich, wenn sie für die saure Arbeit eines ganzen Jahres nur die Hälfte von dem bekämen, was ihr in acht Tagen mit Frühstücken, Mittagessen und Triumphlaufen verdient.
»Wolltet ihr etwa behaupten, eurer Fähigkeit gebühre eine so großartige Belohnung? Wer sagt euch denn, daß zu einem Bischof mehr Verstand von nöten sei als zu einem Schulmeister? Ein guter Lehrer muß alles wissen, sogar ein wenig Theologie; aber ein Bischof, was, außer seiner Theologie, braucht der zu wissen? Glaubt ihr, ehrlich gestanden, es gehöre nicht mehr zu einem guten Arithmetiker oder guten Grammatiker, als zum Fabriziren heiliger Oele? Ich wette, daß die Person des Herrn Dupin genug Stoff zu zehn Bischöfen enthält; aber ich leugne, daß man einen einzigen Schulmeister aus ihm machen könnte. Oder wolltet ihr gar behaupten, die Höhe eures Gehaltes richte sich nach der Nützlichkeit eurer Verrichtung? Dies wäre eine zweite Selbsttäuschung; auch nach dieser Seite sind wir im Vorteil. Die Diözese war vier Monate lang ohne Bischof und kein Mensch merkte was davon. Die Glocken läuteten, die Messen wurden gelesen, die Weiber gingen zur Beichte, nach wie vor; es war nur ein Priester weniger in der Stadt, und seit der Ankunft seiner Eminenz ist einer mehr da, das ist alles. Aber wenn die Diözese vier Monate ohne Schulmeister bliebe, glaubt ihr, das wäre gerade so? Werft uns also nicht wieder vor, daß wir Unterricht geben, um Geld zu verdienen, denn ihr seht, daß wir im stande sind, euch zu antworten.«
III.
Von der Kraft seiner Feder und der Schärfe seines Urteils gibt Tillier in dem nachfolgenden Porträt Dupins einen glänzenden Beweis. Als er zu Anfang der vierziger Jahre dasselbe entwarf, stand jener handwerksmäßige Renegat auf dem Höhepunkt seines Glanzes und war der Abgott des Departements. Heute wird die Aehnlichkeit dieses Konterfeis von niemand in Zweifel gezogen:
»Wahrlich, ich sage Ihnen, Herr Dupin, es gibt eine gewisse Varietät des Egoismus, die selbst einen großen Mann lächerlich machen würde: jene unverschämte und schwatzhafte nämlich, welche stets und immer von sich selber spricht, welche die Aufmerksamkeit der ganzen Welt in Beschlag nehmen möchte und ihren Namen auf jede Mauer schreibt. Sie, Herr Dupin, sind der vollendetste Typus dieser Sorte von Egoismus. Sie lieben das Geld, Sie lieben es mit einer unermeßlichen Leidenschaft, Sie lieben es so sehr, als das Gesetz es zu lieben erlaubt, und doch gibt es ein Ding, das Sie noch mehr lieben, und um so mehr, je mehr es Ihnen versagt ist, und dieses Ding ist die Popularität. Da das Volk Ihnen ausbleibt, haben Sie sich ein Volk aus der Bourgeoisie gemacht. Sie müssen Leute haben, die wohl gekleidet, wohl rasirt, wohl gebürstet, wohl gewichst sind, und die unaufhörlich Ihre Treppe auf und ab laufen. Sie müssen Zeitungen haben, die auf der Lauer liegen und alle Augenblicke ausrufen: ›O, der große Mann!‹ Unbemerkt leben, hieße nicht leben für Sie. Wenn man einen leuchtenden Stoff erfände, der seinen Glanz zwei oder drei Meilen in die Runde wirft, Sie müßten ein Stück davon zu einem breiten Fracke haben, und wenn jede Elle ein Friedensgericht kostete.
»Sie haben eine wahre Wut, zu thronen. Ueberall wo es Komplimente einzuheimsen gibt, laufen Sie spornstreichs herzu. Keine Festlichkeit kann stattfinden in Clamecy, ohne daß Sie in Ihrem breiten Frack erscheinen, majestätisch von Pompiers eskortirt. Würde der Fürst von Monaco einer dieser prunkenden Festlichkeit beiwohnen, er könnte nicht umhin, auszurufen: ›Auf Ehre, wenn ich nicht König von Monaco wäre, möchte ich Herr Dupin sein!‹
»Gewisse einfältige Leute bilden sich ein, Sie hegten gegen mich, der die Gotteslästerung beging, Ihren großen Namen zu verunglimpfen, einen unversöhnlichen Haß, jenen Haß, der nimmer abnimmt, sondern, wie der Dolch des Wilden, ewig sein Gift bewahrt. Diese Leute kennen Sie nicht. Ihr Herzensfeind, Herr Dupin, ist derjenige, welcher Ihre Wichtigkeit nicht zu bemerken scheint und Sie schnöd um die schuldige Aufmerksamkeit verkürzt. Sie hören viel lieber sagen: ›Das ist Herr Dupin, der Speichellecker, der Anwalt aller Mißbräuche, der Verteidiger aller Ungerechtigkeiten; Herr Dupin, der Ueberlaufer, der mit Pauken und Trompeten das Lager des Volks verließ‹ – als etwa sagen, wenn Sie vorübergehen: ›Wer ist denn dieser alte Herr?‹
»Für den Lobhudel haben Sie jenen gefräßigen Appetit, der, ohne lang zu kosten, alles verschlingt, was man ihm vorwirft: die Menge ist Ihnen lieber als die Güte. Das Ständchen, das Sie recht erfreuen sollte, müßte man Ihnen mit der großen Glocke bringen. In Clamecy gibt es einen Schuhmacher, einen lächerlichen Poetaster, den alle Welt verhöhnt. Von zehn Knittelstrophen, welche die hinkende Muse dieses Pech-Apollo zusammenflickt, gehören wenigstens neun dem großen Dupin, ›dem König der Redner‹. In Erwartung Ihrer Ankunft hat er immer ein Gedicht auf dem Leisten und einen Kranz im Kübel. Und Sie, der Akademiker, der zudem an die vergoldeten Schmeicheleien des Hofes gewöhnt ist, Sie brüsten sich unter dieser Krone, als ob sie von Rosen und Lorbeer wäre. Der stinkende Weihrauch, den er Ihnen zufächelt, gilt Ihnen als lieblicher Wohlgeruch; wie das kostbarste Juwel der Popularität tragen Sie das schimpfliche Mal seiner Lobpreisungen auf der Stirne. Und, Tausch um Tausch, schicken Sie ihm für sein Pathos Ihre Reden! …
»Was Sie sind, Herr Dupin, das will ich Ihnen sagen: Sie sind vor allem Dupinianer. Sie gehören keiner Partei an, Sie gleichen jenen Lagunen zwischen zwei Flüssen, die weder Land noch Wasser sind, sondern beweglicher Sand. Sie können jetzt Ihre Biedermannsmaske abwerfen, Ihre geheuchelte Derbheit täuscht niemand mehr. Sie sind nicht der Bauer des Morvan, nein, Sie sind der Fuchsschwänzer der Minister. Sie ziehen Ihre eisenbeschlagenen Bundschuhe aus, um auf dem Spiegelboden der Salons zu wandeln. Sie sind ein Löwe, der die Pfote gibt.
»Sie waren freisinnig, als Sie jung waren, falls Sie wirklich eine Jugend hatten. Aber die Freiheit war Ihnen nur eine arme Grisette, die alle Schätze der Liebe an Sie verschwendete, während Sie eine Geldheirat mit einer Dame von hoher Herkunft, mit dem Königtum, abzukarten suchten. Hätte die Restauration länger gedauert, so wären Sie zu ihr gekommen. Halb Bürger halb Edelmann, halb Prälat halb Minister, hätte man Sie in einem Versöhnungsministerium figuriren sehen. Die Restauration erwartete Sie …
»Sie haben dieselben Leute der Reihe nach angegriffen und verteidigt. Sie haben bald auf dem rechten bald auf dem linken Fuß getanzt. Sie stellten sich als Verbindungsstrich zwischen den Fortschritt und den Widerstand. Sie glaubten, man werde diese Wandelbarkeit der Grundsätze für Unabhängigkeit des Charakters nehmen und sagen: ›Herr Dupin kennt keinen Herrn als sein Gewissen; er lobt das Gute und tadelt das Schlechte, wo er es findet, ohne Ansehen der Partei.‹ Aber Ihre Verstellungskunst trug zu große Galoschen, um sich unbemerkt einzuschleichen, und man sagte einfach: ›Herr Dupin will die Vorteile der Unterwürfigkeit und die Ehren der Unabhängigkeit zugleich genießen.‹ Von Zeit zu Zeit machten Sie den Ministern Opposition, aber Ihre Opposition war so liebreich, daß sie mich an das Gebahren Ihres alten Schulmeisters erinnerte, der seine Lieblingsschüler mit einem Gänsekiel abstrafte. Sie kam mir vor wie die Heldenthaten jener Marktbären, welche, auf Scheingefechte dressirt, die Hunde ihres Herrn in die Pratzen nehmen, als ob sie die Köter erdrosseln wollten, und sie dann laufen lassen, nachdem sie ihnen ein paar Haare ausgerupft.
»Nein, wenn ich die Wählerschaft wäre, so wollte ich nichts von einem Abgeordneten wissen, der auf zwei Bänken sitzt. Ich würde zu Ihnen sagen: ›Herr Dupin, sind Sie der Freund, der Feind oder der Mitschuldige der Regierung? Sie wollen kein Glaubensbekenntnis ablegen, um Ihre Unabhängigkeit nicht zu beschränken? Gut, Herr Dupin, dann bleiben Sie Maire von Gacogne!‹
»Sie haben auf den Bezirk von Clamecy einen bejammernswerten Einfluß ausgeübt, Herr Dupin. Ihr Schutz hat jede edle Gesinnung in seinem Schatten erstickt. Unsere jungen Leute sind im zwanzigsten Jahre zu berechnenden Greisen geworden. Wir haben uns gewöhnt, keinen politischen Akt zu vollziehen, ohne uns vorher zu fragen, was Sie, das öffentliche Gewissen des Bezirks, dazu sagen würden. Die Furcht, Ihren Unwillen, und die Hoffnung, Ihr Wohlgefallen zu verdienen, ist seit zehn Jahren unsere einzige Richtschnur. Sie haben den verderblichsten Geist der Selbstsucht und der Ränkelust unter uns großgezogen. Aus unseren ehrlichen dicken Nullen haben Sie Staatsschmarotzer und Stellenjäger gemacht. Man ließ Dummköpfe studiren, weil man aus dem Dunkel der Zukunft Ihre Hand winken sah, bereit, zu führen und zu versorgen. Man heiratete die Töchter Ihrer Bedienten, um Ihre Protektion als Mitgift zu bekommen, und diese Mitgift haben Sie ausbezahlt. Ihre Empfehlung galt statt erworbener Rechte und ersetzte Tugend und Tüchtigkeit. Die Redlichkeit, welche ohne Ihre Randglossen erschien, wurde schnöd an der Schwelle abgewiesen. Das Talent, das Ihre Finger nicht auf einen Leuchter pflanzten, erstickte elend unter dem Scheffel. Sie wurden als die Vorsehung des Orts betrachtet. Begünstigungen, Staatsstellen, Vorteile, alles kam zu uns aus Ihren Händen. Nächstens hätte man Sie um Regen und Sonnenschein angegangen; und wenn Sie in der Kirche von Clamecy einen Altar gewünscht hätten, der Gemeinderat hätte Ihnen zwei errichtet.
»Aber welchen Gebrauch haben Sie von Ihrem Einfluß gemacht, Herr Dupin? Wie haben Sie Ihre Gunst unter den Haufen von Bittstellern verteilt, die tagtäglich ein gemachtes Elend an Ihrer Thüre zur Schau trugen, und welche ich die Armen des Herrn Dupin zu nennen pflegte? Es ist gerade, als ob Sie recht mit Fleiß die Allerschlimmsten ausgesucht hätten. Greifen wir ohne Wahl aus Ihren Günstlingen einige heraus. Da ist zum Beispiel – aber nein! Sie würden mich durch die Spießruten Ihrer Gesetze jagen, welche in gewissen Fällen die Wahrheit als Verleumdung strafen …
»Diese Revolution – die neben Ihnen, ohne Sie, und vielleicht trotz Ihnen vor sich ging – haben Sie des besten Teils der Beute beraubt, haben diesen vom Blute rein gewaschen und unter Ihre Kreaturen ausgeteilt. O Herr Dupin! wird die Landplage Ihres Einflusses noch lang auf uns lasten? Ich denke nein. Seit Ihrem Adreßentwurf sind Sie schrecklich heruntergekommen. Sie sind nur noch ein Docht, der raucht. Sie verbreiten bereits einen gewissen Pairschaftsduft. An dem Tage, wo der klägliche Schrei: ›Herr Dupin wird Pair, Herr Dupin ist Pair!‹ – wie ein Donnerschlag durch den Bezirk hallt – ist's aus mit Ihnen. Sie sind nicht der Mann, der sich eine Waffe aus seiner Feder zu machen weiß, wenn ihm die Tribüne genommen wird. Sie sprechen das einmal gut, das anderemal schlecht; aber wenn man Ihnen die Zunge abschnitte, was bliebe übrig von Ihrer Person? Ein abgeschätztes Goldstück behält noch den größten Teil seines Wertes, aber eine verrufene Assignate, was gilt die, Herr Dupin? In zehn Jahren, wenn unsere jungen Leute nach dem Herrn Dupin fragen, der so viel Lärm im Bezirk machte, werden sie nichts mehr finden als einen alten Rechtsverdreher.«
IV.
Was könnte die Großherzigkeit des Poeten, die Redlichkeit des Armen, die Tillier in so hohem Grade besaß, besser schildern als folgende Zeilen:
»Gegen die Korruption haben wir leider keine Gesetze; unangefochten müssen wir diese Landplage aus ihren weiten Fittichen die ansteckenden Miasmen auf unsere Städte herabschütteln lassen … Wenn ein Soldat das elendeste Nest an eurer Grenze den Preußen auslieferte, er müßte eines schimpflichen Todes sterben; aber die Elenden, welche, um einige Habseligkeiten mehr zu erraffen, unsere Freiheiten verkaufen, unsere Verträge zerfetzen und die Nation um den Leib fassen, während man ihr die Fußeisen anschmiedet, die belohnt man mit Ehrenstellen und Geldsäcken. Nach welcher Regel beurteilt ihr denn die menschlichen Handlungen? Wenn der Verrat, statt eines Ringkragens, Vatermörder trägt und eine Feder hinterm Ohr, statt eines Degens an der Seite – hört er dann auf, der Verrat zu sein? Braucht er denn nur den Rock zu wechseln, um aus einem Verbrechen zu einer Tugend zu werden? Ein paar verschimmelte Grenzsteine, haben denn die mehr Wert für euch als die Rechtsordnung eures Landes?
»Aber wie schändlich auch jede Verkäuflichkeit ist, am schändlichsten ist doch die des Schriftstellers. Diejenigen, welche eine Stimme haben, stark genug, um den Massen sich hörbar zu machen, die sind die natürlichen Anwälte der guten Sache. Gott hat ihnen die Zunge gelöst und hat ihnen befohlen, den Dienst der Freiheit zu predigen. Wenn sie treulos werden an ihrem heiligen Beruf, wenn sie, als verruchte Hirten, ihre Herde dem Schlächter verkaufen, dann verdienen sie die ganze Verachtung, die in einer Menschenseele Platz hat. Das ist gerade, wie wenn der Leuchtturm die Küste, die er dem sturmgepeitschten Schiffe zeigen soll, verlassen wollte, um auf der Klippe seinen Sitz aufzuschlagen. Ich bin der geringsten einer, die für das Volk schreiben, ich habe nur eine Zaunkönigsfeder in der Hand; aber Gott soll mich bewahren, daß ich sie je an unsere Unterdrücker verkaufe! O nein! und wenn mich der Hunger an den Eingeweiden zerrte mit seinen Eisenfingern, zu solcher Schmach würde ich mich nicht erniedrigen. Wenn ich mein Brot betteln muß, so sei's wenigstens nicht in den Vorzimmern der Minister. Lieber wollte ich von Thür zu Thür meine Pamphlete hersagen und denen die Hand hinstrecken, welche ein Herz für Freiheit und Vaterland haben. Und sicherlich würden mich ruhigere Träume heimsuchen auf meinem Stroh als manchen andern auf seinem seidenen Lager.
»Zwischen den eisigen Steppen der Armut und dem langweiligen Eden des Reichtums, wo der Himmel immer mit demselben Blau und die Erde immer mit demselben Grün bemalt ist, gibt es eine gemäßigte Zone, welche weder Not noch Ueberfluß kennt. Hier beschert der Boden dem Schwächling nichts, der ihn nicht bauen will; aber wer eine Furche gräbt, ist sicher, daß sie gute Aehren trägt. Wohl gibt es unter diesem veränderlichen Himmel düstere und regnerische Tage, aber oft auch lächelt die Sonne mild und prächtig durch die entladenen Wolken. Hier habe ich mein bescheidenes Zelt zwischen zwei blühenden Büschen aufgeschlagen. Ich befinde mich vortrefflich an diesem Ort und habe keine Lust, ihn zu verlassen. Meine Bedürfnisse sind mäßig und mein Magen ist klein. Da mir ein Rippchen genügt, ihn zu füllen, warum sollte ich einem Metzger mich verdingen, um einen Schlegel zu haben? … Große Damen frequentire ich nicht, meine Toilette kostet mich daher sehr wenig, und die ihrige kostet mich gar nichts. Ich habe den Grundsatz, daß ein Kleid, das im Kasten hängt, nicht zum Bekleiden dient, und so besteht meine ganze Garderobe aus einem Paletot von angenehmer Dicke für den Winter, und einem dünnen Röckchen für die linden Tage der schönen Jahreszeit. Die Existenz dieser Kleidungsstücke verlängere ich nach Kräften; und es kümmert mich sehr wenig, ob die Mode mich schief ansieht, wenn ich ihr begegne. Das schadet meinem Respekt nicht bei denen, welche mich kennen, und die anderen mögen es halten damit, wie sie wollen. Hab' ich doch, wenn man mich grüßt, wenigstens das befriedigende Bewußtsein, daß der Gruß nicht meinem Rocke gilt …
»Falls ihr an meine väterlichen Gefühle appellirt, so antworte ich euch, daß ich meine Kinder von Herzen liebe, daß ich aber nicht mein Gewissen verkaufen will, um sie zu bereichern. Ueberdies habe ich sie nicht auf die Welt gesetzt, damit sie reich seien; es würde mich kränken, wenn sie es werden sollten. Ihre Wiege war aus Weiden geflochten, und es ist unnötig, daß ihr Totenbett aus Mahagoni geschnitzt sei. Wir Tillier, wir sind alle aus dem harten, knorrigen Holze gefertigt, aus dem man die armen Leute macht. Meine beiden Großväter waren arm, mein Vater war arm, ich bin arm; meine Kinder sollen nicht aus der Art schlagen. Wenn mein Sohn sich einfallen ließe, Reichtümer zu sammeln, mein erzürnter Schatten würde ihm erscheinen und ihm die Geldsäcke aus dem Fenster leeren. Und glaubt nicht etwa, das sei Uebertreibung; denn ich sage euch: der alte Hinkebein, der in jenem Straßenwinkel die Schuhe flickt und den ihr verachtet, verdient ein ehrenhafteres Brot als die höchsten Federbüsche unter unsern großen Herren und die schwersten Geldsäcke unter unsern Finanzkünstlern.
»Und im übrigen, warum sollte mir das Los meiner Kinder Sorge machen? Wenn mein letzter Hustenanfall gekommen, wenn meine Feder samt meiner Seele in Gottes Hände zurückgegangen ist, wird dann die Sonne verlöschen und die Erde aufhören zu grünen? Der Allvater, der den Jungen der Vögel die Nahrung gibt, wird er sie den Kleinen des Pamphletisten verweigern? Meine Eltern haben mir nichts gegeben, und ich bin ihnen dankbar dafür: hätten sie mir viel gegeben, so würde ich vielleicht nicht wagen, ihren Namen unter meine Pamphlete zu setzen. Als ich das väterliche Haus verließ, hatte ich nicht einmal einen Beruf. Ich bin in diese Welt gefallen wie ein Blatt, das die Winde vom Baum schütteln und den Weg entlang rollen. Doch habe ich den Mut nicht verloren; ich habe immer gehofft, vom Flügel irgend eines Vogels, der durch die Lüfte streicht, werde eine Feder herabfallen, die für meine Finger paßt, und meine Hoffnung ist nicht getäuscht worden. Der Reiche ist eine Pflanze, die in ganzem Blätterkleide und in vollem Blütenschmuck aus der Erde steigt. Ich war ein armes Korn, mitten unter die Dornen geworfen; mit zerrissenem Haupte hob ich die harten Hüllen, die mich drückten, und drang empor zur Sonne. Warum sollten denn die bescheidenen Halme, die ich auf meinem Wurzelstock lasse, nicht wachsen, wie ich wuchs? Statt mich den Mächtigen zu verkaufen, habe ich diejenigen bekriegt, die sich ihnen verkaufen, und ich bereue es nicht. Das ist noch der beste Weg zu einem ehrenvollen Grab. Davon bin ich überzeugt; und wenn mir diese meine Pamphletistenfeder aus dem Grabe wüchse, und mein Sohn wäre fingerstark genug, sie zu führen, ich würde ihm raten, nach ihr zu greifen, und sollte er ein Gefängnis mitten auf seinem Weg finden. Wenn man sich sagen kann: Der Unterdrücker fürchtet dich, und der Unterdrückte hofft auf dich – das ist der schönste Reichtum, ein Reichtum, für den ich alle übrigen hingäbe.
»Und was hälfe mir's denn, wenn ich, gleich jenen Herren, einer der gewichtigsten Spießbürger meiner kleinen Stadt wäre? Eine saubere Ehre, die dickste Spargel in einem Büschel, oder der größte Rettich von einem Korb voll zu sein. Ich verstehe nicht auf Stelzen zu gehen, und um höher zu stehen als die andern, will ich nicht auf einen Kothaufen steigen. Wer stolz sein will, muß wenigstens wissen, warum; aber diese Philister, die mit ihren dicken Bäuchen so wichtig thun, worauf sind sie denn stolz? Sie wissen es selbst nicht, und diejenigen, welche den Hut so tief vor ihnen ziehen, wissen es ebensowenig. Diese Herren verachten das Volk, und darum halten sie sich für Halbadelige; aber sie sind nichts als Schmetterlinge, welche Raupen verachten …
»Und im übrigen ist der Mensch nicht nur zum Leben geboren, sondern auch zum Sterben. Wer von uns sucht nicht einen Blick hinter den dichten Vorhang zu werfen, der unser Dasein abschließt? Alles, was stirbt, hinterläßt eine Spur seines Lebens: wenn der Lufthauch verweht ist im Himmelsraum, so zittern die Blätter noch, die er geküßt hat; wenn der Quendelbusch vom breiten Gebiß des Ochsen zermalmt ist, so läßt er der Wiese noch eine Zeit lang seinen Duft; wenn die Saite der Geige unter dem unsanften Striche des Bogens gesprungen ist, so geben die zwei bebenden Enden noch einen säuselnden Klang von sich. Aber all die Leute, die ihr Gewissen verschachert haben – wenn der letzte Ton der Glocken, die ihnen zu Grabe läuten, verhallt ist; wenn die silberpapiernen Thränen, womit man sie beweint, in ihre Bahre gelegt wurden; wenn die donnernden Gewehre, welche ihrer sterblichen Hülle den letzten Gruß bringen, ausgeraucht haben – was bleibt übrig von ihnen? ein schimpfliches Andenken und ein entehrter Name, etwas wie jener Gestank, der die ausgelöschte Kerze überlebt. Hinter ihren Schmeichlern wird das Volk kommen, das sie verraten haben, und wird auf ihre Grabschrift speien. Ich aber, wenn ich weder Marmorsteine noch Goldbuchstaben für meinen Sarg habe, ich will wenigstens, daß der bescheidene Hügel, der ihn decken wird, einen guten Geruch verbreite; und vielleicht wenn den Freund der Freiheit eine fromme Pflicht zum Garten der Toten führt, geht er einige Gräber weiter, meinen Schatten zu grüßen …«
Und an einer andern Stelle:
»Den Namen Pamphletist, den ihr mir wie einen Schimpf nachwerft, den heb' ich auf und trag' ihn als Ehrentitel. Den Menschen die Wahrheit sagen, das ist, all eurem Gerede zum Trotz, ein edles Handwerk. Was kümmert's mich, wenn ein paar alte Grillen und zwei oder drei Hornkäfer, die kein Gebiß mehr haben, mich zornmütig ansummen in ihrem kleinen Grimm; ich bin mir bewußt, einen guten Gebrauch von dem bißchen Verstand gemacht zu haben, das Gott mir zuteilte. Ich bin lieber mit mir selber in Frieden als mit andern, und meine Achtung ist mir mehr wert, als die eines Trupps Maulaffen, welche mich weder kennen noch verstehen.
»Was haben sie mir als Schriftsteller vorzuwerfen? Ich nahm stets Partei für den Schwachen gegen den Starken; ich wohnte stets unter dem zerrissenen Zelte der Besiegten und schlief an ihrem harten Biwak. Freilich habe ich einige allzu pomphafte Beiwörter gestrichen, welche gewisse Namen sich zugelegt hatten; auch habe ich da oder dort einer aufgeblasenen Eigenliebe ihre Blase verknallt. Aber die Leute, die ich so behandelte, standen auf seiten des Feindes, und ich hatte das Recht, ihre Wichtigkeit zu beschnipfeln. Ich habe das Kriegsrecht nicht überschritten gegen sie; und wenn sie sich über mich beklagen, so ist dies gerade, wie wenn ein alter Reichssoldat sich beklagen wollte, er sei bei Austerlitz von einem Franzosen verwundet worden. Nennt das Persönlichkeiten – meinethalben; hat doch jeder seine Art, Krieg zu führen: die anderen schießen in halber Mannshöhe auf die Massen; ich aber wähle meinen Mann und nehm' ihn aufs Korn, Wenn zufällig ein Federbusch an meiner Thür vorübergeht, dem geb' ich immer den Vorzug.
»Mein Name verliert sich unter den vielen, welche die große Stadt täglich in ihrem weiten Munde wälzt; aber dennoch bilde ich mir ein, meine Feder sei nicht unnütz. Der Hag ist niedrig, seine Zweige hängen ins Gras; aber mit seinen Dornen sticht er den Uebelthäter, der in fremdes Erbe brechen will; seine wilden Blumen gibt er der Schäferin, die des Weges kommt, und die kleinen Vögel bauen mit Sicherheit ihr Nest in seinen Zweigen. Ich will lieber eine niedere schützende Hecke, als ein hoher unnützer Baum sein. Wer ein schändliches Handwerk treibt, das ist der Lohnschreiber, welcher der Gewalt einen alten Flederwisch von Feder verkauft, mit dem keine Spitalfrau ihr Ofenloch kehren möchte, und der dem Gelde zulieb sein Leben in Lug und Trug verbringt. An seiner Stelle möchte ich freilich nicht sein.
»Ich bin also ein Pamphletschreiber; aber bin ich in der That ein Gottloser, wie die schwarzen Herren ihren frommen Seelen weis machen möchten? – Nach ihrer Religion, das mag sein; aber nach der Religion Gottes, das bestreite ich. Hätte denn der höchste Richter, wenn ich morgen vor seinen Richterstuhl treten müßte, so viel mir vorzuwerfen? Ich habe meine Hände nicht mit Gold gefüllt, ich habe meine Gedanken nicht verschachert; ich habe sie den Menschen gegeben, ganz und unverfälscht, wie ihnen der Baum seine Früchte gibt. Ich habe mein tägliches Brot aus Gottes Hand genommen, ohne je eine größere Ration von ihm zu fordern. Wenn dieses Brot schwarz ist, beklag' ich mich nicht; wenn es weiß ist, eß ich es mit gutem Appetit; aber schwarz oder weiß, nie laß ich 'was übrig für den morgigen Tag. Ich gehe geradeaus, ohne rückwärts und ohne vorwärts zu blicken, nur den Stein vor meinen Füßen suche ich zu vermeiden, und auch das gelingt mir nicht immer. Wenn ich ein Unkraut auf meinem Weg sehe, reiß' ich es aus; wenn ich ein gutes Korn finde, mach' ich ein Loch in die Erde und leg' es hinein, falls es nicht für mich aufgeht, wird es schon für einen andern wachsen. Ich mache es wie der Schmetterling, der des Sommers genießt, ohne des Winters zu denken, und dem es, für die paar Tage, die er auf Erden zu bleiben hat, nicht einfällt, sich ein Nest zu bauen. Ich rate meinen Kindern, zu thun wie ich; ich vermache ihnen mein Beispiel: das ist der beste Reichtum und für diesen haben sie wenigstens keine Verlassenschaftskosten zu zahlen. Ich gebe mich nicht mit Beten ab und zwar deshalb, weil Gott besser weiß als ich, was er zu thun hat; weil ich wohl Dinge von ihm verlangen könnte, die nicht gut für mich wären; und weil er, ohne daß wir ihn darum bitten, alle Morgen die Sonne aufgehen und jedes Jahr die Erde Kräuter und Früchte tragen läßt, denn wenn er uns erschaffen hat, so ist er auch verpflichtet, für unsern Unterhalt zu sorgen. Er kann nicht sein wie jene schlechten Väter, die ihre Kinder vor den Thüren der Findelhäuser absetzen. Ich bete ihn ebensowenig an, weil er der Anbetung nicht bedarf und weil die Verehrung, welche die Menge ihm zollt, nichts ist als eine Schmeichelei selbstsüchtiger Geschöpfe, die ins Paradies wollen. Aber wenn ich einen Pfennig habe, den ich entbehren kann, geb' ich ihn einem Armen.
»Ich habe gesagt, was i c h bin, mögen nun diejenigen, welche mich einen Gottlosen heißen, ebenso aufrichtig erzählen, was s i e sind, und es wird sich bald zeigen, daß sie weniger Religion haben als ich.«
V.
Nichts zeichnet die Standhaftigkeit und Seelenstärke des armen Kranken besser als die nachfolgende Stelle, voll Spott und Ergebung, mit der Tillier dem Tod ins Gesicht lacht. Der bei dieser Gelegenheit genannte Herr Gaume, ist ein Abbé, welcher für seinen Bischof, Herrn Dufêtre, den Schenkelknochen der heiligen Flavia von Rom nach Nevers gebracht und so den Spott des Pamphletisten herausgefordert hatte.
»In der Kongregation des Herrn Gaume« – schreibt Tillier – »ist wegen meiner ein Schisma ausgebrochen: ein Teil dieser Jungfrauen sagt nämlich, ich sei, von dem strafenden Schenkelknochen der heiligen Flavia getroffen, im Sterben begriffen; ein anderer, ungeduldigerer Teil aber behauptet, ich sei schon gestorben, ich sei maustot und sogar begraben. Ich bin am Sterben, gut; das ist möglich. Ist's doch in der That lange her, daß die Jahre der Jugend, diese schönen Zugvögel, die der Winter verscheucht, mir davongeflogen sind. Ich habe mehr als die Hälfte meines Wegs zurückgelegt; ich befinde mich auf dem jenseitigen Abhang des Lebens, wo die Gründe in düstrem Scheine liegen, die Bäume kaum ein paar Blätter behielten, und der graue Himmel von Schneeflocken wimmelt. Ist man einmal auf dieser abschüssigen Bahn angelangt, dann ist der Niedergang eher ein Hinabrollen als ein Hinabsteigen zu nennen. Aber daß ich tot bin, das bestreite ich. Uebrigens ist mein Tod ein gemachtes Wunder für die heilige Flavia; ich mag heute, ich mag morgen, ich mag in zehn Jahren sterben – nichts hindert die ausgedienten Jungfrauen des Herrn Gaume, zu sagen, ihre Heilige habe mich umgebracht.
»Diese drohende Verkündigung meines nahen Todes erschreckte mich, ich gestehe es; aber der heilige Claudius, mein verehrungswürdiger Schutzpatron, ist mir eine der letzten Nächte erschienen:
»›Fürchte dich nicht, mein lieber Claude‹ – sagte er zu mir – ›der Herr Christus hat deine Pamphlete gelesen, sie haben ihm sehr gefallen, und wenn er sich nicht darauf abonnirt, so unterläßt er's nur, weil er den Herrn Dufêtre nicht vor den Kopf stoßen möchte. Du bist derjenige, der die Religion verteidigt, und wer sie angreift, ist eben jenes Jesuitenvolk, das die Religion zu seinem Vorteil bearbeitet und herrichtet, als ob sie sein Eigentum wäre. Du hustest, ich weiß das, ich hör's dort oben, wie du hustest, und ohne dir schmeicheln zu wollen, kann ich sagen, daß du sehr gut hustest. Aber nimm keinen Gummisirup, das ist ein elendes Getränke; leg dich früh zu Bette, steh spät auf und trink du die heilsame Landluft. Ich will nicht behaupten, daß diese Diät dich kuriren wird; ich bin keiner von jenen empirischen Heiligen, welche die Heilkunst treiben, als ob sie davon leben müßten. Aber wenn diese Flavia an deine Brust rührt, dann soll sie erfahren, was ein Claude ist: mit einem einzigen Streiche meines Krummstabs schlag' ich ihr solch ein Schenkelbein in tausend Stücke.‹
»›Lieber Patron« – antwortete ich ihm – ›wäre Ihr Krummstab etwa gar mit Blei ausgegossen? Aber jedenfalls können Sie nicht die Absicht haben, ihn gegen ein Weib zu schwingen.‹
»›Ein Weib‹ – antwortete er mir – ›ein Weib! Was soll das heißen? Ist denn die Bosheit unverletzlich, sobald sie mit der Schwachheit gepaart ist? Und du selber, Claude, obwohl du ein ganzer Claude bist, nimmst du Anstand, eine Fliege zu töten, die dich gestochen hat, aus dem einfachen Grunde, daß du stärker bist als sie?«
Die Wärme seiner Empfindung, die Zärtlichkeit seines Herzens – wie mächtig brechen sie noch einmal hervor in diesen letzten Zeilen, die er auf seinem Totenbette schrieb:
»Meine Mutter steht neben meinem Krankensessel; sie ist taub, die arme Frau, und meine Stimme ist schwach, wir können uns kaum verstehen. Aber sie ist da, sie hüllt mich in ihre Blicke, sie sucht in meinen Augen zu lesen, was ich wünsche, sie weiß aus der kleinsten Falte meiner Stirn zu erraten, was mir mißfällt. Sie hat die andere Hälfte ihrer Familie, die, welche ihrer entbehren kann, verlassen; sie will ihren Teil haben von meinem Todeskampf. Dieselbe Sorgfalt, die einst meine Kindheit pflegte, widmet sie jetzt meinem frühzeitigen Alter. E i n e n Sohn hat sie schon sterben sehen, und nun kommt sie, um auch mir die Stütze ihres Arms zu leihen und mich sanft den Abhang des Lebens hinabzuführen …
»Arme Mutter! mit welch schwerer Hand hat Gott die Thränen abgemessen, die er unter deine Lider barg? Oder wäre Gott ungerecht gegen die Mütter? Ein Sohn kann nur einmal seine Mutter begraben; aber eine Mutter, um wie viel Söhne mag sie Trauer tragen! Bin ich wenigstens das letzte Kind, das sie begraben soll? Wird ihr doch ein letztes bleiben, um ihr die Augen zu schließen und zu unseren Gebeinen ihre teure Hülle zu legen? Wäre das ihr Los, müßte sie den Schlüssel unseres armen Hauses mit sich nehmen? …
»Ach! um wie viel bin ich doch weniger zu beklagen als sie! … Ich sterbe einige Tage vor meinen Altersgenossen, aber ich sterbe in jenem Alter, wo die Jugend zu Ende geht, und das Leben nichts mehr ist als ein langer Verfall. Unversehrt geb' ich dem Gott die Gaben heim, die er mir anvertraute; freien Fluges durcheilt mein Gedanke noch immer den Raum, ihm konnte die Zeit die Federn der Flügel nicht bleichen … Ich bin wie der Baum, den man abhaut und der noch Früchte trägt am alten Stamm inmitten der jungen Sprößlinge, die nachwachsen. Schöner, blasser Herbst! dieses Jahr hast du mich nicht auf deinen Wegen gesehen, die mit welkenden Blumen besetzt sind; deine milde Sonne, deine würzigen Lüfte haben mich nur durchs Fenster erquickt; aber wir scheiden zusammen! Mit dem letzten Blatte der Pappel, mit der letzten Blume der Wiese, mit dem letzten Liede der Vögel will ich sterben, ja, mit allem was hold, mit allem was schön ist im Raume des Jahres; der erste Frosthauch möge mich abrufen. Glücklich, wer früh stirbt und nicht altern muß!«
Dieses Lebewohl bedarf keiner Reime, um ein Gedicht zu sein; etwas Rührenderes und Echteres hat die Poesie nicht geschaffen. Selten findet man so viel lyrischen Schmelz mit so viel polemischer Kraft und logischer Schärfe vereinigt wie in den Schriften Tilliers. Aber in seinen Werken spiegelt sich sein Charakter. Er war eine jener schönen Naturen von eingeborenem Adel, die aus der Tiefe der Gesellschaft emporsteigen und, trotz Anfechtung und Bedrängnis, reinen Fußes den Schmutz des Lebens durchschreiten. Ganz dritter Stand und Volk, liebte er die Freiheit leidenschaftlich und kämpfte heldenmütig für sie auf dem entlegenen Posten, den der Zufall ihm anvertraut hatte. Unbekümmert um persönliche Dinge, lebte er seiner Idee und fand seinen Lohn in sich selber. Die Uneigennützigkeit war seine Tugend und die Menschenwürde seine Religion.
Nachdem ich diesen tapfern Ritter des Worts aus seinen Schriften kennen gelernt hatte, nahm ich mir vor, ihm auch in Deutschland ein Andenken zu stiften. Ich trat an sein eingesunkenes Grab, reichte die Hand seinem ernstblickenden Schatten und sprach zu ihm: »Da ruhst du nun, still und verlassen unter deinem bescheidenen Rasen, wackrer Kämpfer! Und sechs Fuß Erde ist alles, was der Tod dir gegeben hat, nachdem das Leben soviel dir versagte. Auch ich bin ein verstoßener Jünger der Freiheit, der deine Wege wandelt und gekommen ist, an deinem Hügel seine Andacht zu verrichten. Schlummre nur in deiner undankbaren Erde, Enterbter! – ich, der Flüchtling, will dir dein Denkmal aufrichten in meiner Heimat. Deinen ›Benjamin‹, der dir gleicht an edlem Stolz und wahrer Menschenliebe, will ich in eine Sprache übertragen, die vierzig Millionen zu Herzen spricht; und dein Bild, du treuer Fürsprech der Bedrückten, will ich aufstellen unter meinen Stammgenossen, denn du bist der echte Mann des Volks, den alle Völker anerkennen als den ihren. – Sieh, unsere Feinde halten uns für arm an Gütern und für schwach an Gewalt; aber wir sind reich im Geiste und stark im Willen, und wir sind ihre Herrn durch die Macht der Erkenntnis. Die Thoren! Sie wissen nicht, daß ein ewiges Gesetz wirkt und waltet ob ihren Häuptern, und daß sein allmächtiger Geist sachten Schrittes, aber ehernen Ganges, die Welt u n s e r e m Ziele entgegenführt: der Befreiung des Menschengeschlechts, dem Reiche der Gerechtigkeit. Sie sehen nicht die Fußstapfen seines Wandels, sie hören nicht die Wahrsprüche seines Gerichts; uns aber, seinen Sendboten, erscheint er in all seiner Herrlichkeit und spricht zu uns: ›Klaget nicht! Ich bin mit euch, und statt der Gaben der Vergänglichkeit verheiß' ich euch die Güter der Dauer. Seht die Armseligen, sie brüsten sich mit ihrer Beute – und das Nichts ist ihr Erbteil; denn ihre That ist ohne Samen und ihre Verlassenschaft ist ohne Nachkommen, sie schaffen für die Verwesung. Ihr aber seid die Arbeiter der Auferstehung, euer Werk, das wächst von Geschlecht zu Geschlecht und währet in Ewigkeit.‹ — So schlaf denn getrost in deinen Ehren, dein armes Grab überlebt ihre Marmorgrüfte. Laß sie nur schimmern und scheinen, laß sie nur spotten und schmähen, die Ungerechten: ihre Seele wird verschwinden ohne Spur, wie der Halm, der keine Frucht trägt; aber du, Auserwählter, wirst leben unter den Lebendigen. Dein Haupt schläft und feiert, aber dein Gedanke wacht und arbeitet. Du hast deine Furche gegraben in das Feld der Zeit; manche Ernte wird darüber gehen und keine wird sie auslöschen. Tausend Geister werden dich empfangen, tausend Herzen werden dich segnen!«
Ludwig Pfau: Literarische und Historische Skizzen. 2. Aufl. Stuttgart [u. a.]: Dt. Verl.-Anst. 1888. S. 137-182.
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