Ludwig Pfau (1821-1894) · Briefedition


Datum: 5. 5. 1850
Adressat: Carl Mayer


Zürich, den 5. Mai 1850.

Mein lieber Mayer!

Am Datum Deines Briefes sehe ich, daß sich derselbe auf dem Wege zu mir etwas aufgehalten haben muß; es ist daher nicht meine Schuld, wenn Du meine Antwort etwas später erhältst, als Du erwartet hast. Gegen Deinen Vorschlag, eine Kritik über meine Gedichte in die Kohl-Monatsschrift [Anm.: Die von Kolatschek begründete Monatsschrift. Dr. Adolph Kolatschek aus Mähren, Mitglied der Linken in der Frankfurter Nationalversammlung, kam 1849 als Flüchtling an den Genfersee und begründete 1850 die "Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben" Von ihm herausgegeben, erschien sie Januar bis Dezember 1850 in Stuttgart (Hoffmannsche Verlagsbuchhandlung), Januar bis Juni 1851 in Bremen (C. Schünemanns Buchhandlung). Die Zeitschrift wurde zum Sprechsaal der Flüchtlinge: Carl Vogt, Franz Raveaux, Ludwig Simon, Karl Hagen, Johannes Scherr, Carl Mayer, Karl Nauwerck, Richard Wagner, Reinhold Solger, Gottfried Kinkel u.a.] zu schreiben, habe ich nichts einzuwenden; im Gegenteil glaube ich, daß die Partei der Revolution jedem, der treulich zur Revolution hält und irgend etwas zu wirken imstande ist, die möglichst ausgedehnte Anerkennung zu verschaffen suchen sollte, d. h. mit andern Worten das Kapital der Persönlichkeit gut anlegen sollte, damit es tüchtig Zinsen trägt. Ebenso muß sie aber auf jeden Abtrünnigen unerbittlich lospauken, und wenn es unser Herrgott selber wäre. Beiliegend schicke ich Dir also die "Gedichte" [Anm.: Pfaus "Gedichte", erschienen Frankfurt a. M. 1847] samt dem Heftchen: "Stimmen der Zeit" [Anm.: "Stimmen der Zeit", erschienen Heilbronn 1848. 2. Auflage: Stuttgart 1849], welche einiges Neue enthalten, das in den "Gedichten" nicht steht. Diese beiden mußt Du mir aber gelegentlich zurückgeben, weil es die einzigen Exemplare sind, die ich noch habe. Eine Rede auf Blum [Anm.: Robert Blum, 1807-1848. Gemeint ist: Pfau, Ludwig: Ein Todtenkranz auf das Grab Robert Blum's. Rede, gehalten bei der Trauerfeier in Heilbronn den 21. Nov. 1848. Heilbronn: Drechsler [1848]. 7 S.], die mir gerade in die Hände fiel, als ich die Gedichte hervorsuchte, lege ich Dir bei, Du hast sie vielleicht noch nicht gelesen; es ist ein gesunder republikanischer Zorn darin, der immer wohltätig auf ein revolutionäres Herz wirkt, wie ein gutes Glas Wein auf den Magen. Was nun Deine freundschaftliche Aufforderung betrifft, Dir einiges unter den Fuß zu geben und die Schönheit meiner opera ins gehörige Licht zu setzen, so muß ich gestehen, bin ich in einiger Verlegenheit. Nicht als ob ich mich im geringsten genierte, über meine Kinder alles mögliche Liebe und Gute zu sagen, Gott bewahre! eine solche Bescheidenheit würde einem Revolutionär, und dazu einem von der Natur rot gefärbten [Anm.: Anspielung auf Pfaus rote Haare.], schlecht anstehen; allein die Gedichte sind mir selber ganz fremd geworden, und ich kann es der deutschen Nation nicht übel nehmen, daß sie keine große Notiz davon nahm, habe ich sie doch selbst beinahe vergessen, und die Revolution hat mich wahrhaftig zum Rabenvater gemacht. Wenn ich hie und da einen Besuch bei der Jungfer Poesie machte, so war es nur in politischen Angelegenheiten, was die Jungfer, die wie alle Weiber durch sich selber gefallen will, mich öfters etwas schnippisch vermerken ließ. Ich bedaure, daß ich die Briefe, die mir Strauß, Vischer, Mörike und B. Auerbach [Anm.: Über den Verbleib dieser Briefe ist bisher nichts bekannt] über die Gedichte schrieben, nicht habe, ich hätte sie Dir zur Benützung gesandt, aber der Teufel weiß, wo die hingekommen sind. Ich kann Dir deshalb nur sagen, daß in den Sommer-Heften der "Blätter für literarische Unterhaltung", die in Leipzig erscheinen, und die in Bern vielleicht existieren, im Jahrgang 1848 eine Kritik über die Gedichte erschienen ist [Anm.: In den von Heinrich Brockhaus redigierten "Blättern für literarische Unterhaltung" erschien Mai/Juni 1848 eine Besprechung "Neue Lyriker" von J. Gegenbaur; darin (Nr. 154, 2. Juni 1848) eine Anzeige und Charakterisierung von Pfaus "Gedichten"], die zwar nicht viel Schatz [?] wert ist, wie alle Kritiken jener Blätter, da sie nie auf das Eigentümliche und Prinzipielle einzugehen wissen, aber die Du immerhin lesen könntest.

Strauß machte mir große Elogen über die vollendete Form und über die Leichtigkeit der Handhabung derselben, sowie über den Gedanken- und Gefühlsreichtum des Inhalts, Mörike lobte das Volkstümliche mancher Gedichte und suchte sich mehr einzelne heraus, die ihm gefielen. Jeder nach seiner Art. Auch Vischer äußerte sich sehr günstig, nur hab ich seinen gelehrteren Seich nicht mehr im Gedächtnis. Ich kann Dir also von diesen Briefen nichts mehr mitteilen als jene allgemeinen Phrasen, da mir das Spezielle entfallen ist. Was ich Dir nun allenfalls selbst mitteilen könnte, das wäre hauptsächlich der Standpunkt, auf den ich mich stellen würde, wenn ich von meiner Autorschaft abstrahiere und die Gedichte als fremde betrachte. Jeder andere Standpunkt als der politische wäre mir im Augenblick unmöglich, und es wird Dir auch so gehen. Ein anderer Standpunkt wäre auch unzeitgemäß. Dadurch ist aber gleich eine andere Art der Betrachtung gegeben. Wenn die ästhetische Betrachtungsweise, das Einzelne isoliert und als Selbständiges betrachtet, d. h. das Ganze im Teil sieht, so geht der politische Kritiker den entgegengesetzten Weg und sieht das Einzelne, wenn es auch für sich ein Ganzes bildet, nur als Teil eines größeren Kreises und stellt es in seinen Beziehungen zum geistigen Gesamtleben dar. Konkret gesprochen, der Ästhetiker wird fragen: ist dieses Gedicht vollendet in der Form, hat es die gehörige lyrische Stimmung, ist es naiv, sentimental, ist es künstlerisch abgerundet, ist die Gliederung, die Architektonik ebenmäßig, ist die gehörige künstlerische Ökonomie da? Der Politiker wird zwar diese Fragen nicht ganz beiseite liegen lassen, er wird aber die Fragen anders fassen, er wird sagen: ist hier eine bedeutende geistige Kraft, eine Wirkenskraft in diesem Buch, wer ist der Kerl, von dem diese Kraft ausgeht, und in welcher Beziehung steht er mit seiner Wirkungskraft zum Zeitbewußtsein, wo rammt sich der Kerl ein, gibt er einen Hammer oder Amboß ab etc.? Du mußt etwas Ähnliches gefühlt oder gedacht haben, weil Du nicht bloß das Einzelne besprechen willst, sondern nach dem ganzen Plunder fragst.

Ich würde also mit den "Sonetten" [Anm.: Ludwig Pfau: "Deutsche Sonette auf das Jahr 1850". Zürich 1849] anfangen und sie charakterisieren. Sodann würde ich eine politische Schwenkung machen und auseinandersetzen, wie es für die Demokratie von Bedeutung sei, solche Kräfte in ihren Reihen zu zählen, welche die künstlerische Form in ihrer Gewalt haben. Einmal war die Kunst und das Formtalent jederzeit vorzugsweise aristokratisch, weil unsere Bildung selber eine durchaus aristokratische ist, und weil eine vollkommene Herrschaft über die Kunst-Form immer eine gewisse geistige Durchbildung voraussetzt. Die Konstitutionellen haben sich immer viel darauf zugut getan, daß sie darin die demokratische Partei überragen, und man muß auch zugestehen, daß sie beinahe ganz im Besitz der Presse und Literatur sind. Fast alle, die in Deutschland einen wissenschaftlichen oder künstlerischen Namen haben, sind Reaktionäre. Vom Grimm, Dahlmann, Humboldt bis zum Strauß und Vischer; vom Cornelius bis zum Hofbildhauer Hofer in Stuttgart; vom Tieck bis zum J. Kerner und zum langweiligen Pfizer und zum elenden Laube, der die Karlsschüler schrieb, sind sie alle Reaktionäre. Wie aber die Emanzipation des Proletariers im politischen Leben damit anfing, daß er denselben Rock anzog wie der vornehme Herr, daß er also die äußeren Unterschiede einbrach, so fängt die Emanzipation im geistigen Leben damit an, daß sich das Volk auch der Kunstformen, der Wissenschaft und überhaupt der geistigen Errungenschaft, des geistigen Vermögens der Nation bemächtigt und auch die geistigen Unterschiede einreißt. Deshalb hat die Erscheinung des Künstlers oder des Poeten oder des Musikers (R. Wagner) im Lager der Revolution eine große politische Bedeutung. Wohlverstanden, es handelt sich hier nicht um Persönlichkeiten, sondern es handelt sich um die Tatsache, daß die Bildung, daß das Kapital des Geistes sich nicht mehr einsperren läßt in die Kreise der sogenannten höheren Gesellschaft, in die Studierstube der "bessern Männer".

Hier wären einige Rückblicke am Platze. Der erste, der eigentlich in das Lager des Volks überging mit seiner Leier, war unser Uhland. Die franzosenfresserischen Gedichte der Freiheitskämpfe haben keine politische Bedeutung in unserm Sinn, es handelte sich dort bloß um einen nationalen Kampf, aber nicht um die Befreiung des Menschen vom Menschen. Wie denn auch alle Franzosenfresser, die noch leben, die ärgsten Reaktionäre geworden sind. Uhland, abgesehen von der Schönheit seiner Gedichte überhaupt, verdankte gewiß einen großen Teil seiner Popularität jener volkstümlichen Richtung seiner Muse, die sich nicht allein in der Form seiner Poesie, sondern hauptsächlich darin kund tat, daß er Partei fürs Volk nahm gegen die Fürsten und ihre Helfershelfer, "die Fürstenrät' und Hofmarschälle, mit trübem Stern auf kalter Brust" [Anm.: Aus Uhlands Gedicht "Am 18. Oktober 1816" (Gedichte von Ludwig Uhland, kritische Ausgabe von Erich Schmidt und Julius Hartmann, 1. Band, Stuttgart 1898, S. 74/75)]. Jene Opposition Uhlands war freilich noch eine ganz zahme konstitutionelle, wofür ihn auch Börne gehörig abkanzelt, aber es war eben die einzig mögliche für jene Zeit, das Volksbewußtsein war eben selbst noch nicht weiter, und diese Gedichte waren für jene Zeit revolutionäre. Sodann ein paar Worte über Herwegh. Auch er mit der Macht der Kunstform ausgestattet, ließ aus "des Volkes Masse" sein klingendes Feuerwerk gegen die alte Gesellschaft los; auch er spielte "vor Hütten auf" und lernte "die Paläste nicht ersteigen", und seine Gedichte wirkten wie ein Ereignis. [Anm.: Herweghs "Gedichte eines Lebendigen", zuerst Zürich/Winterthur 1841. Vgl. W. Näf, "Das Literarische Comptoir Zürich und Winterthur", Bern 1929. Die Zitate spielen auf Stellen in den "Gedichten eines Lebendigen" an.] Warum? Es war keine neue Idee darin, kein befruchtender Gedanke. Aber man fühlte allgemein die tiefe Bedeutung der Tatsache, daß auch dieses bedeutende künstlerische Talent aus den Reihen von seinesgleichen ausgewandert und in das Lager des Volkes übergegangen war. Herwegh kokettierte zwar noch mit dem König von Preußen, er feierte Béranger und warnte doch vor den Franzosen, es mangelte ein politisches Prinzip. Aber dieses ist natürlich nicht dem Dichter, sondern der Unklarheit jener Periode in die Schuhe zu schieben.

Und das Volk hatte eben einen Dichter, der so gut Verse machte als einer jener Poeten von Gottes Gnaden. Das war das Aufsehenerregende; das war das Alarmierende. Um nun zu den "Sonetten" zurückzukommen, so wäre an diesen der Fortschritt der Zeit nachzuweisen, imdem sich in ihnen nicht mehr ein unklarer Freiheitsrumor, sondern ein entschieden revolutionäres Bewußtsein geltend macht. Mit einigen Worten über die mehr ironisch gehaltenen Sonette würde man jetzt eine Schwenkung zum "Eulenspiegel" [Anm.: Das von Pfau 1848 in Stuttgart herausgegebene satirische Blatt "Eulenspiegel". Zum "Eulenspiegel" siehe: Supper, Ottilie: Witz, Satire und Humor in der Publizistik Württembergs mit besonderer Berücksichtigung der schwäbischen periodischen Witzblätter. Würzburg: Triltsch 1938, S. 13-27. (Zeitung und Leben. 51). Zugl. München, Univ., Phil. Fak., Diss. 1937. - Ferner: Pollig, Andrea: "Germania ist es, - bleich und kalt,...". Allegorische Frauengestalten in der politischen Karikatur des "Eulenspiegel" 1848-1850. In: Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49. Hrsg. von Carola Lipp. Moos u. Baden-Baden: Elster 1986, S. 385-402] machen, indem man sagen würde, in den ironisch gehaltenen Sonetten zeige sich jene Art der Behandlung politischer Stoffe, durch die der Verfasser im "Eulenspiegel" gewirkt habe. Hier ließ[e] sich nun einiges über die Macht und namentlich über die Berechtigung von Witz und Satire, von Ironie und Humor anknüpfen. Dies wäre gar nicht überflüssig. Es wäre zu zeigen, wie diesen negierenden Formen der redenden Kunst das Geschäft zuteil wird, das Alte und Mürbe vollends abzumorschen und das faule Fleisch am kranken Körper der Gesellschaft wegzuätzen. Es wären einige Steine gegen die feine Gesellschaft zu schleudern, die sich über ein solches Beginnen des Spottes beschwert, ihm aber einfach mit Grobheiten und Schimpfereien antwortet, welche die Sittlichkeit ihrer "sittlichen Entrüstung" und die Stufe ihrer Bildung am besten beurkunden. Es wäre sodann zu zeigen, wie die Negation, der Spott, die Karikatur selber nur aus der Liebe zum Rechten, zum Schönen, zum Naturgemäßen sich entwickle, und daß man das Falsche verspottet, weil man das Wahre liebt. Hier wäre eine Schwenkung zu den "Gedichten" zu machen, die im Jahre 1847 erschienen sind. Hier könnte man sagen, wie es auf den ersten Anblick verwunderlich erscheine, daß derselbe Kerl, der im "Eulenspiegel" auf der Baßgeige der Grobheit gespielt, hier die zartesten Gefühle in melodischem Adagio vorzutragen wisse; aber daß das gerade deutlich zeige, wie beide Ströme derselben Quelle entsprängen, und wie das Streben nach dem Harmonischen auch den Kampf gegen die politische Schweinerei unserer Zustände in sich begreife. Du könntest die Vorahnung eines baldigen Sturms in einigen Gedichten zeigen und dasselbe Bestreben nach Befreiung und Selbständigkeit, wie es sich im Jahre 48 in weiteren Kreisen kund gab. -

Soeben erfahre ich, daß Kolatschek in Zürich sei und die Monatsschrift wahrscheinlich aufhöre. Ich breche deshalb hier ab. Du als Mitarbeiter an der Zeitschrift weißt es entweder schon, ob sie fortdauert, oder Du wirst es doch wenigstens auf einen Brief genau erfahren. Erkundige Dich deshalb vorher, denn Du wirst auch nicht gern vergebens schreiben. Du könntest vielleicht ähnliche Aufsätze in die "Neue Deutsche Zeitung" [Anm.: Gegründet zur Zeit des Frankfurter Parlaments als "Reichstags-Zeitung", dann in "Neue deutsche Zeitung" umgetauft; ihrer Richtung nach süddeutsch-demokratisch und großdeutsch. Vgl. L. Salomon: "Geschichte des deutschen Zeitungswesens", Oldenburg und Leipzig 1906, 3. Band, S. 611. Bibliographischer Nachweis: Neue Deutsche Zeitung. Darmstadt, [ab April 1849] Frankfurt a. M. Erschienen: 1.7.1848-30.6.1850] schicken, sonst wüßte ich im Augenblick kein Organ. Siehst Du, so tief steht die Demokratie bei uns noch in der Literatur und im Leben des Geistes, daß sie nicht einmal ein Organ hat, durch das sie sich äußern kann. Es ist niederträchtig. Ich habe Dir in Obenstehendem nur die zerstreuten Brocken gegeben, wie sie mir beim Kauen der Grundidee gerade aus dem Schnabel fielen. Du hättest dann daraus gemacht, was Du gewollt hättest. Wenn Du nun im Sinne hast, eine derartige Kritik zu schreiben, die durch die Allgemeinheit ihrer Auffassung gewiß eine ansprechende und interessante Arbeit würde, und sie entweder in der "Monatsschrift", wenn sie noch besteht, oder wo anders unterzubringen weißt, so darfst Du mir's nur mit ein paar Zeilen zu wissen tun. Dann will ich Dir die Gedichte schicken, die ich jetzt vorerst noch hier behalte, um Dir keine unnötigen Portoauslagen zu machen, und will Dir noch einige Schlußbemerkungen über die Gedichte selber etc. mitteilen, die Du vielleicht benützen kannst.

Was die württembergische Landesversammlung [Anm.: Die zu Anfang 1850 gewählte, am 3. Juli 1850 aufgelöste sog. zweite konstituierende Landesvertretung in Württemberg] betrifft, so ist mir alles, was sie tut, total Wurst. Diese Menschen haben kein Prinzip und treiben ihrer Lebtag Unzucht mit der bestehenden Tatsache. Sie passen sich und ihr Prinzip stets den Umständen an. Mit solchen Leuten macht man keine Revolution. Der Revolutionär muß ein Mensch sein, bei dem's geht oder bricht, und der eine tiefe Überzeugung und einen heiligen Zorn hat. Diese Menschen aber - und namentlich Dein Schoder [Anm.: Adolf Schoder, 1817-1852, württembergischer Politiker, Mitglied der deutschen Nationalversammlung, in ihr Gründer der Parteigruppe "Westendhalle". Der Linken nahestehend, versuchte er den Rumpf und die Reichsregentschaft 1849 in Württemberg zur Anerkennung zu bringen. Er präsidierte die drei konstituierenden Landesversammlungen Württembergs 1849/50. Vgl. Allg. deutsche Biographie XXXII/212f. An ihm wie an Seeger vermißte Ludwig Pfau offenbar die eigentlich revolutionäre Entschlossenheit.] und Dein Seeger [Anm.: Adolf Seeger, 1815-1865, nationaler und liberaler Politiker Württembergs, der sich 1850, nach dem Sieg der Reaktion, vom öffentlichen Leben zurückzog. Er war der Bruder des Dichters und Politikers Ludwig Seeger. Vgl. Allg. deutsche Biographie XXXIII/570] wissen nichts, als ihre elende Persönlichkeit in den Vordergrund zu schieben, und haben nicht den großen Ehrgeiz des Revolutionärs, der sein Blut läßt für das Bewußtsein, der Menschheit genützt zu haben, sondern den kleinlichen, jämmerlichen Ehrgeiz des Stellenschnappers. Mein Trost ist aber, daß Württemberg in der nächsten Revolution, die eine europäische oder eine vergeckte [Anm.:Bedeutet im Schwäbischen: mißlungen, mißraten] wird, die Laus im Kraut ist, und daß die Popularität dieser Menschen nicht viel schaden wird. Vogt [Anm.: Carl Vogt war Mitglied des Paulskirchenparlaments und des im Juni 1849 gesprengten Stuttgarter Rumpfparlaments. Am 6. Juni 1849 wurde er zusammen mit Franz Raveaux, Friedrich Schüler, Heinrich Simon und August Becher in die Reichsregentschaft gewählt, die sich bemühte, die Leitung der badischen und pfälzischen Aufstände in die Hand zu bekommen und eine bewaffnete Macht zu organisieren] ist noch ein ganz anderer Kerl. Er hat zwar auch seinen Teil an den Dummheiten des Parlaments [Der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche], er ist auf demselben Standpunkt mit den Dahlmännern [Friedrich Christoph Dahlmann und seine Gesinnungsfreunde, die in der Nationalversammlung die kleindeutsch-konstitutionelle Mittelpartei (das "Casino") gebildet hatten und im Mai 1849 aus der Nationalversammlung ausgetreten waren] und besten Männern gestanden, die er bekämpfte, nämlich auf dem Standpunkt, auf dem man glaubt, mit den alten Formen noch etwas ausrichten zu können, auf dem man das Staatsgebäude renovieren will, statt es total einzureißen. Aber Vogt sah doch wenigstens ein, daß sein Standpunkt "eigentlich gar kein Standpunkt sei". Er fühlte den innern Widerspruch dieser Menschen, die etwas Neues bauen wollen und sich doch total in die Fesseln des Alten begeben; die, statt die alte Welt einfach zu negieren, mit ihr unterhandeln und diplomatisieren; die, statt den Feind herauszutreiben aus seinen Schlupfwinkeln und ihn zu zwingen, sich auf das Blachfeld der Revolution zu stellen, sich vom Feind in seine Schlupfwinkel hineinlocken lassen, wo sie dann einzeln jämmerlich erwürgt werden. Wenn man mit den Diplomaten diplomatisiert, ist man jedesmal verloren.

Gibt es denn einen größeren Unsinn, als sich mit dem Feinde auf sein Spiel einzulassen, statt ihm das Spielbrett um den Kopf zu schlagen? Man muß einfach die Diplomaten hängen und die Diplomatie in Abgang dekretieren, das ist der Weg, auf dem man mit den Kerls fertig wird. Ich muß mich für Vogt hier viel verstreiten. Sie fallen über ihn her, wie die Geier über ein Aas. Es ist natürlich, Vogt ist eigentlich doch der hervorragendste Kopf der Linken, und an ihm bricht sich nun der ganze Parlamentshaß. Die Leute hassen das Parlament und jeden, der den Parlamentsstandpunkt nicht verlassen will, und da haben sie vollkommen recht. Aus einem Konvent, das den Willen des souveränen Volks vollstrecken sollte, ist eine erbärmliche Koterie geworden, die die Volkssouveränität in sich gefressen hat. Statt mit dem Volke Hand in Hand zu gehen und einzusehen, daß sie gegenüber vom Volke nichts, daß sie nur durch das Volk etwas sind; statt einzusehen, daß in den Köpfen des Volks zehnmal mehr Verstand steckt, als in den ihrigen, haben sie sich vom Volke abgetrennt, haben wohlweise, staatsmännische Köpfe geschnitten, die Esel, und haben eine Parlaments-Kaste gebildet. Mit einem Wort, als sie die Monarchen nicht abtun konnten, sind sie selber kleine Monärchlein geworden, die ihre Individualität dem Volke als absolute Weisheit, absolute Gewalt etc. aufdrängen wollten. Kurz, nur eine neue Sorte von Absolutismus! Statt 36 Monarchen hatte man jetzt etliche Hundert. Das ist der Mühe wert, so viel Spektakel zu machen. Das ist alles wahr, aber ebenso wahr ist, daß wir, die wir jetzt über die Parlamentler schimpfen, zur Zeit so große Esel waren als sie selber. Daß zwar unser revolutionärer Instinkt uns immer Opposition gegen sie machen ließ, daß wir aber die Ungereimtheit der ganzen Wirtschaft ebensowenig einsahen, als die Volkssouveräne in der Paulskirche. Das führe ich denen zu Gemüt, die über Vogt schimpfen. Ja, sagen sie, das ist wahr, aber wir sind doch wenigstens jetzt zur Vernunft gekommen, aber diese Parlamentsköpfe beharren auf ihrem Irrtum. Gut, sag' ich, wer beharrt, den hängt, wer sich bekehrt, dem drückt die Hand und damit basta. Daß aber Vogt beharre, dafür liegen noch keine Beweise vor. Im Gegenteil, was ihr Vogt vorwerft, daß er über alles schlechte Witze mache, das schreibe ich ihm zugut. Während ihr Esel waret und jenen parlamentarischen Einheitsdusel im Kopf herumschlepptet, war der Vogt schon so gescheit, daß er eure wie seine eigene Eselei spürte und darüber lachte. Ihr macht jetzt schlechte Witze übers Parlament, Vogt machte sie schon vorher, das ist höchstens ein Beweis, daß er schneller begriffen hat. Gerade so lang der Mensch über den Unsinn lacht, so lang ist auch noch Hoffnung, daß er den Sinn begreift. Von dem Augenblick, da der Mensch nicht mehr lacht, wird er ein Esel. Ich sage deshalb nicht wie Salomo, den Narren erkennt man am vielen Lachen, sondern den Narren erkennt man an der Ernsthaftigkeit. Ja, sagen die andern, das ist alles recht, aber Vogt ist ein ehrgeiziger Mensch, er will es mit keiner Partei verderben, um etwas zu werden. Ich kann aber einen Menschen, der so viel Geist als Vogt hat, nicht so trivial auffassen. So lang Vogt mit dem Vorhandenen nicht ganz gebrochen hat, wird er natürlich auch die bestehenden Formen nicht ganz desavouieren, er wird Minister, salva venia Reichsminister werden, er wird ehrgeizig sein, weil er glaubt, auf dem alten Wege noch etwas auszurichten, er wird hie und da konservativ erscheinen, gerade weil er die alten Wege noch nicht ganz verlassen hat. Aber die negierende Kraft seines Geistes macht Opposition gegen ihn selber; so verhöhnt er gleichsam selber die Formen, die er auf der andern Seite noch zu verteidigen scheint, weil er ihre Nichtigkeit noch nicht vollkommen begriffen hat; und dadurch erhält er das Schillernde, das Unzuverlässige. Ihr aber, sag' ich weiter, werdet euch doch nicht allein für klug halten? Ich seh' gar nicht ein, warum Vogt nicht zu derselben Überzeugung kommen sollte wie ihr. Den Geist geb' ich nie verloren, nur die Dummheit ist inkurabel. Und gerade Vogts neuste Arbeiten, seine Tierstaaten [Anm.: Carl Vogts "Untersuchung über Thierstaaten" erschien in mehreren Fortsetzungen in der "Deutschen Monatsschrift", und zwar im Januar (Jg. 1, Bd. 1, S. 116-131), März (S. 432-443), April (Bd. 2, S. 69-78), Mai (S. 225-235), Juni (S. 366-375) und Oktober 1850 (Bd. 4, S. 17-38). Buchausgabe: Frankfurt am Main: Literarische Anstalt 1851], beweisen, daß er eine bedeutende Schwenkung nach links macht. A bah! sagen sie, Larifari! Dem Vogt ist nichts ernst, das ist ein Kunstreiter, der auf jeden Gaul springt, auf dem er seine Kunststücke zeigen kann; er ist ein Akrobat des Geistes. Gut, sag' ich, laßt ihn immer reiten, wenn er nur die fürstlichen Schindmähren zu Tode reitet. Gerade weil Vogt das Faule und Schlechte mit so viel Salz und Schärfe verhöhnt, hat er auch eine Liebe zur Wahrheit in sich. Das Märchen vom Spötter, der alles Heilige verhöhnt, ist das dümmste Volksmärchen, das ich kenne, und ist eine psychologische Lüge. Jeder Haß trägt auch die Liebe, jeder Hohn die Überzeugung und jeder Spott den Ernst in sich. Was Vogt bis jetzt gesündigt hat, sind Unterlassungssünden, und er hat gesündigt mit euch allen und mit der ganzen Nation; wenn er sich einmal der Revolution in den Weg stellt, dann fallt meinetwegen über ihn her, bis dahin aber: pax vobiscum! So sieht's aus. Aus dem bisherigen kannst Du selbst sehen, wes Glaubens ich bin. Und ich habe so viel Zutrauen zu Deiner Vernunft, daß ich überzeugt bin, Du bist keiner von denen, die dem stillen Wahnsinn der Parlamentskrankheit verfallen sind. Es hat allerdings solche; aber das gesunde Blut reißt sich wieder heraus. Was nun sonst meine volkssouveräne Herrlichkeit betrifft, so schreibe ich gegenwärtig an einem großen politisch-philosophischen Werke; oder wenn Du willst, an einer Weltgeschichte vom Standpunkt der Sozialdemokratie aus, die sich aber nicht zu viel in den abstrakten Nebel verliert, sondern sich an die konkrete Tatsache hält, die auf diesem Wege die Aufgabe des Staates und der Menschheit aus der ganzen Natur und aus der Vergangenheit heraus demonstriert und so mit mathematischer Gewißheit auf die Prizipien kommt, die dem Menschengeschlechte und dem Staate zu Grunde liegen, gerade so gut man durch Untersuchung auf die Prinzipien kommt, die der Chemie und der Physik zu Grunde liegen.

Man könnte das Buch also auch eine Naturgeschichte der Demokratie heißen. Ich habe eine Masse ungeordneten Stoff bereits aufgeschichtet, und es liegt mir alles so klar und bestimmt vor Augen, daß ich nur Stein auf Stein zu setzen brauche, um das Haus zu bauen. Ich bin jetzt eben am Behauen der Steine. Den Grundriß hab ich fertig. Ich bin überzeugt, daß ich mit dem Buche etwas wirken werde und bin deshalb vergnügt in dem Herrn, so schlecht es mir sonst geht. Meine Eulenspiegelsgenossen, die Hunde, schicken mir seit Januar weder Gelder noch Briefe. Seitdem sie merken, daß ich nicht mehr so bald nach Württemberg kann, denken sie: "Du brummst wir wohl!" [Anm.:Vermutlich Anspielung auf das Hobellied aus Raimunds "Verschwender" (1833)] Die Sonette, die ich hineinschickte, um einiges Geld damit aufzutreiben, haben die erbärmlichen Kerls aus Hosenscheißerei nicht einmal vertrieben, so daß ich noch keinen Pfennig dafür erhalten habe. Ein Manuskript Gedichte, wegen dessen ich mit einem Karlsruher Buchhändler abgeschlossen hatte, wurde von der preußischen Behörde abgefaßt, und der Buchhändler beigesteckt. "Keine Hoffnung ist Wahrheit geworden!" Du wirst begreifen, daß ich ein gänzlich auf den Sand gefahrnes Wrack bin. Ich weiß oft des Morgens nicht, ob ich mich den Tag über satt essen werde; ich bin also buchstäblich im Belagerungszustand. Wenn ich mit meinem Buche fertig bin, so weiß ich gewiß, daß ich was Ordentliches dafür bekomme, weil es gerade die drängendsten Fragen der Zeit behandelt, aber eine so umfassende Arbeit erfordert immer einige Zeit, und bis dahin ist Schnurrmaulen [sic] Trumpf. Wenn Du deshalb imstande wärest, mir nur eine Anleihe von 100, ja im Notfall nur von 50 fl. zu verschaffen, Du hast ja viele und wohlhabende Bekannte und Verwandte, so würdest Du mir einen großen Dienst erweisen, wie Du leicht begreifst, und ich könnte dann doch mit mehr Ruhe an meinem Buche arbeiten. Freilich, 50 fl. würden mich nicht viel helfen, weil ich ungefähr so viel Schulden habe, aber die Schulden bezahlt, hätte ich doch wieder mehr Luft.

Nun lebe wohl. Tu, was Du kannst, und schreibe bald Deinem

L. Pfau.

Grüße Vogt, Simon [Anm.: FLudwig Simon aus Trier, 1810-1872, Mitglied der äußersten Linken in der Nationalversammlung und im Stuttgarter Rumpf. Seit 1849 als Flüchtling in der Schweiz. 1849/50 (mit Unterbrechungen) in Bern, dem Hause Carl Mayers in Wabern dauernd sehr nahe verbunden] etc., grüße Deine Frau.

Grüße alle vernünftigen Menschen, die nicht von der Parlamentskrankheit besessen sind.

Leset den Proudhon [Anm.: Unter dem Titel "Der Socialismus in Frankreich seit der Februar-Revolution" veröffentlichte die "Deutsche Monatsschrift" im April (Jg 1, Bd. 2, S. 64-68), Juli (Bd. 3, S. 18-35), August (S. 202-224) und September (S. 366-383) 1850 sowie im Januar (Jg. 2, Bd. 1, S. 28-31) und April 1851 (Bd. 2, S. 13-23) einen Beitrag von Sigm. Engländer über Proudhon. - Wann Pfau Proudhon persönlich kennenlernte, ist noch ungeklärt.]! Das ist ein Kerl! Das ist die beste Arznei gegen die Parlamentskrankheit.

[Adresse:] Herrn C. Mayer aus Eßlingen,

abzugeben in der Realschule in Bern.


Quelle: Ludwig Pfau Blätter. Ausgabe 1. Heilbronn 1993, mit folgendem Hinweis:

1932 veröffentlichte der Historiker Werner Näf an entlegener Stelle Briefe von Ludwig Pfau und Carl Vogt aus den Jahren 1850 und 1851, die bis vor kurzem der Pfau-Forschung weitgehend unbekannt geblieben sind, obwohl sie wichtige Quellen zur Biographie Pfaus und zur Situation der Flüchtlinge in der Schweiz darstellen. (Nach der deutschen Revolution von 1848/49. Briefe von Ludwig Pfau an Carl Vogt aus dem Exil. Mitgeteilt von Werner Näf. In: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte. 12 (1932) S. 166-209. - Abgedruckt sind zwei Briefe Pfaus (vom 5. Mai und vom Juni 1850) sowie vier Briefe Vogts (vom 17. Dezember 1850, 28. März, 28. Mai und 6. August 1851).)

Zwei dieser Briefe, von Pfau an den 1819 geborenen württembergischen "Achtundvierziger" Carl Mayer aus Esslingen, der sich nach der Niederschlagung der Revolution von 1849 und anschließender Flucht in die Schweiz als Lehrer für Deutsch und Geschichte am Gladbachschen Erziehungsinstitut in Wabern bei Bern durchschlug, werden im folgenden neu zugänglich gemacht. Der Wiederabdruck erfolgt in der Orthographie des Näfschen Erstdrucks von 1932, die Anmerkungen von Näf wurden übernommen und punktuell ergänzt. (Ergänzungen der LPB sind eckig geklammert.)

Zur Überlieferung der Briefe schreibt Näf in der Einleitung zur Edition: "Aus den Tiefen eines Schrankes ist neulich ein reiches Erbe jener Zeit [Anm.: gemeint: das deutsche Flüchtlingswesen in der Schweiz vor und nach 1848] zutage gefördert worden: Annähernd 200 Briefe deutscher Flüchtlinge an Carl Mayer aus Eßlingen. Sie vermitteln eine Fülle von Einsicht in Leben und Gedankenwelt bewegter und für ihre Zeit charakteristischer Persönlichkeiten, deren Namen und zum Teil recht blaß gewordene Bilder die Geschichte der Politik, der Wissenschaft, der Literatur bewahrt: Ludwig und Heinrich Simon, Franz Raveaux und Karl Nauwerck, Wilhelm Loewe und Stephan Born, Johannes Scherr und Ludwig Pfau, Eduard Desor und Carl Vogt. Die Enkelin des Adressaten, Fräulein Margarete Rustige in Stuttgart, hat diesen Schatz treulich und verständnisvoll gehütet; ihrer Liebenswürdigkeit verdanke ich - außer wertvollen biographischen Angaben über Carl Mayer - Einsicht in diese Briefe und die Erlaubnis, Abschriften davon zu nehmen." (Ebd., S. 166-167)

Die Originale wurden seinerzeit dem Reichsarchiv in Potsdam übergeben (Signatur: A VI 1 Ma, Nr. 2) und befinden sich heute [Anm.: Stand 1990!] im Zentralen Staatsarchiv in Potsdam, die von Näf veranlaßten maschinenschriftlichen Abschriften liegen im Historischen Seminar der Universität Bern.


Erläuterungen:


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